Epistula/epistola: Brief (auch: littera/litterae, carta/cartula, apex, brevis, indiculus, u.a.)
Allgemein bezeichnet die epistula bzw. epistola in klassischer Zeit einen Brief im Sinne einer Zuschrift bzw. eines Sendschreibens, während der ebenfalls in der Antike häufig gebrauchte Begriff der litterae den Brief eher als geschriebenes Dokument begreift1 DNG I, „epistula“, Sp.1881.. Spätestens mit dem Beginn des Mittelalters lässt sich diese Abgrenzung der epistula gegenüber den zahlreichen anderen gängigen Termini für Briefe (z.B. littera/litterae, carta, apex und brevis) aber kaum noch vornehmen2 Vgl. G. Constable, Letters and letter-collections, S. 35. Bei den genannten Begriffen handelt es sich lediglich um die häufigsten. Bei Alkuin (†804) finden sich beispielsweise nicht weniger als 12 verschiedene Bezeichnungen für einen Brief (litterae, litterulae, carta, cartula, epistola, apices, pagina, paginola, syllabae, indiculus, epistiuncula, cera), vgl. C. Veyrard-Cosme, Tacitus Nuntius, S. 101. Vgl. allgemein zu Briefen seit klassischer Zeit bis in die Spätantike v.a. M. Zelzer, Briefliteratur; zu mittelalterlichen Schreiben M. Mersiowsky, Überblick; W. Ysebaert, Medieval letters; G. Constable, Letters and letter-collections. Zu den Forschungsdebatten vgl. A. T. Hack, Codex Carolinus, S. 17–22. .
Die Auffassung, welche Dokumente konkret als Brief zu klassifizieren sind, variiert schon bei den Zeitgenossen. Für Augustinus von Hippo (†430) definiert sich ein Dokument als eine epistula, wenn am Anfang einen Absender und einen Empfänger auszeichnet3 Augustinus Retractationes II, 20, Epistula est, habet quippe in capite quis ad quem scribat, vgl. dazu R. Schwitter, Gebrauchstext oder Literatur, S. 85.. Für Isidor von Sevilla (†636) fallen unter einen Brief ganz allgemein „versandte Dinge“ ( missa)4 Isidor, Etymologiae VI, 8,17, Epistolam proprie Graeci vocant, quod interpretatur Latine missa. Στόλα enim sive στόλοι missa vel missi, vgl. dazu R. Flierman, Gregory of Tours, S. 122f.. Während antike Autoren noch strikt zwischen Privat– und Amtsbriefen unterscheiden5 So z.B. der spätantike Rhetoriker Iulius Victor (4. Jh.), vgl. dazu M. Zelzer, Briefliteratur, S. 328., verwischen auch hier die Grenzen im Mittelalter zunehmend6 Vgl. C. Kakridi, Cassiodors Variae, S. 51; G. Constable, Letters and letter-collections, S. 23.. So lassen sich beispielsweise Urkunden und Briefe kaum voneinander trennen7 Vgl. A. T. Hack, Codex Carolinus, S. 32–36. Besonders gut lässt sich die Problematik an der karolingerzeitlichen epistola de litteris colendis nachvollziehen, die man in der Forschung wahlweise als Kapitular, Mandat oder Brief einordnete, vgl. dazu T. Martin, Bemerkungen. und auch die Gattungsgrenzen zwischen Brief und Dichtung verschwimmen an manchen Stellen fast vollständig8 So z.B. bei Venantius Fortunatus († um 600) und Theodulf von Orléans (†821), vgl. F. E. Consolino, Formes et fonctions, S. 139; E. Rouquette, Lettres en vers, S. 271.. Der spätantik-mittelalterliche Brief lässt sich deshalb am besten ganz allgemein als „eine schriftliche Mitteilung an einen Abwesenden“9 H. Götschmann/M. Zelzer, Epistel, Sp. 1161. begreifen. Daran anknüpfend können an entsprechende Quellen weitere Maßstäbe angelegt werden, die gegebenenfalls für oder gegen einen Brief sprechen und je nach Fragestellung variabel sind.10 So z.B. das Vorgehen von Hack, der an frühmittelalterliche Briefe folgende Merkmale anlegt: Eine oder mehrere natürliche Personen als Absender bzw. Empfänger, starker mündlicher Aspekt, Vorhandensein einer Anrede, Erwartung einer Antwort, Zeitabstand zwischen Schreiben und Lesen des Dokuments, geringe formale Anforderungen, mannigfaltiger Inhalt, der sich thematisch oder nach der Kommunikationssituation einteilen lässt sowie stilistische Vielfalt, vgl. A. T. Hack, Codex Carolinus, S. 17–22. Für Schwitter steht dagegen das literarische Potenzial eines Briefes im Mittelpunkt, das anhand seines Öffentlichkeitsgrades ermittelt werden könne, vgl. R. Schwitter, Umbrosa lux, S. 40–65. Schröder wiederum rückt Funktion und Intention des Schreibens in den Vordergrund, vgl. B.-J. Schröder, Bildung und Briefe, S. 147–150..
AM