FREILASSUNG1 Die libertas bezeichnet eigentlich den Zustand der Freiheit und wird hier als Begriff für den Rechtsakt gebraucht, mit dem eben jener Zustand bei einem Unfreien herbeigeführt wird. Seit der Spätantike konnten Freilassungen in unterschiedlichster Form stattfinden: in Kirchen, vor Amtsträgern, durch Brief, Testament oder anders mitgeteilte Willenserklärung. Entscheidend war dabei die Anwesenheit von Zeugen. Vgl. dazu A. Nitschke, Freilassung, S. 223f.
In Gottes Namen ich der Soundso. Da ich den Verfall der Vergänglichkeit befürchte und die Vergänglichkeit im Menschengeschlecht das Ende der Lebenszeit durch [den Tod2 Die transpositio, meint hier so viel wie „Hinscheiden“ und beschreibt die Verlagerung weg vom irdischen hin zum himmlischen Leben. Der Begriff gehört zu einer ganzen Gruppe von Euphemismen für (körperlichen) Tod und Sterben, die den Übergang vom Irdischen zum Himmlischen markieren.] fürchtet, der kommen wird, gebührt es sich, dass letzterer niemanden unvorbereitet vorfinde und einer nicht ohne irgendwelche Werke von gutem Rückhalt sei, aber, solange es in seinem Recht und seiner Macht [steht], mag sich der Mensch einen Pfad zum Heil bereiten, über welchen man zur ewigen Seligkeit gelangen kann.3 Ein und dieselbe Arenga konnte für unterschiedliche Rechtsakte mit gleicher Ausgangssituation oder gleichem Ziel (hier die Förderung des Seelenheils) genutzt werden. Marculf II,4 überliefert eine nahezu wortgleiche Arenga, die dort allerdings eine Schenkung an eine Kirche für das Seelenheil und keine Freilassung einleitet.
Daher musste4 Im Sinne von „müssen“ erscheint habere immer wieder in frühmittelalterlichen Rechtstexten, etwa der Lex Alamannorum 81 (tangant ipsa terra cum spatas suas, quos pugnare habebunt); zu diesem Gebrauch von habere vgl. auch P. Stotz, Handbuch 4, IX § 62, S. 325-327. der Freilassungsstab5 Die manumissio vindicta beschrieb in klassischer Zeit eine Freilassung durch den Herrn in Anwesenheit eines Liktors durch Anlegen einer vindicta (wohl eines Stabes). Im Laufe der Spätantike scheint diese Form in der Freilassung vor einem Amtsträger des Staates aufgegangen zu sein, wobei sich die Bezeichnung als manumissio vindicta noch in justinianischer Zeit findet (Digesten 40,2; Codex Justinianus VII,1). Offenbleiben muss, ob in späterer Zeit die symbolische Anlegung der vindicta noch erfolgte. Vgl. dazu M. Kaser, Das römische Privatrecht I, S. 253; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 134. meine Sklavin Soundso zusammen mit ihren Kindern6 Bei fantes handelt es sich um eine hyperkorrekte Schreibweise von infantes, bei der die vermeintlich ans Wort gezogene Präposition in weggelassen wurde, was völlig im Rahmen der orthographischen Variantenbreite frühmittelalterlicher Latinität liegt, dazu P. Stotz, Handbuch 3, VII § 92.6, S. 122. E. Rozière, Recueil 1, S. 88 und K. Zeumer, Formulae, S. 30 haben entsprechend emendiert. Soundso und Soundso, die wir aus Eigengut7 Mit allodium wurde in der Merowingerzeit zunächst der eng mit dem erbbaren oder ererbten verbundenen und nicht auf andere Weise erworbenen Grundbesitz bezeichnet. Im Laufe der Karolingerzeit schwächte sich diese Trennung ab. Seit dem 10. Jahrhundert konnte allodium damit jede Form keinerlei Einschränkungen unterliegenden und frei verkäuflichen Grundbesitzes bezeichnen, der als Erbe weitergegeben werden konnte und für welchen lediglich an den fiscus Abgaben zu leisten waren. Vgl. dazu T. Rivers, Meaning, S. 26f.; H. Dubled, Allodium, S. 242-246; E. Magnou-Nortier, Recherches sur l’alleu, S. 143-172. besaßen, zur Milderung meiner Sünden von jeglichem Joch der Knechtschaft für mich befreien. Wir verkünden, dass dieselben wirklich Freigeborene8 Mit dem Begriff ingenuus wurden bereits in der römischen Kaiserzeit Freigeborene bezeichnet, gegenüber denen die Freigelassenen lange Zeit eingeschränkte Rechte genossen. H. Grieser, Sklaverei, S. 135-143. sind, und [tun es] öffentlich, denn es geschah nicht im Geheimen, in der Avernerstadt9 Clermont-Ferrand (Frankreich, département Puy-de-Dôme, chef-lieu). Die Gleichsetzung von Clermont und den Arvernern als „Arvernerstadt“ ist bereits bei Ammianus Marcellinus, Res gestae XV,11,13 belegt. Sidonius Apollinaris, Epistolae III,12,2 spricht im Zusammenhang mit Clermont von der urbs Arverna. , im Haus der Mutterkirche10 Die Kathedral- bzw. Hauptkirche einer Diözese. des heiligen Soundso, wo bekanntlich zu dieser Zeit in Christi Namen Bischof Soundso als Pontifex11 Sowohl pontifex als auch episcopus gehören zu den sieben möglichen Bezeichnungen für Bischof, wobei episcopus hier den Rang bzw. die Position in der kirchlichen Hierarchie bezeichnet, pontifex dagegen die Funktion als Vorsteher einer bestimmten (Episkopal-)Kirche. Nach dem Formelbuch Bischofs Salomon III v. Konstanz (890-919) (E. Dümmler, Das Formelbuch, XLV S. 59f.) lauten die „sieben Namen des Bischofs“ pontifex, presbyter, praesul, papa, sacerdos, episcopus und antistes. vorsteht, vor dem Altar in Anwesenheit der Priester, Diakone, Kleriker sowie in Anwesenheit weiterer Personen, die eben diese [Freilassung] unten mit eigener Hand bestätigt haben, zur Milderung meiner Sünden vom Joch der Knechtschaft für mich abgespannt wurden, so wie wir es schon gesagt haben12 Freilassungen in Kirchen waren seit Konstantin dem Großen rechtens und hatten in Anwesenheit des Bischofs (antistes) zu erfolgen (Codex Justinianus 1,13,1 und Codex Theodosianus 4,7,1). Der Freilassungsakt fand im Kirchengebäude während des Gottesdienstes in Anwesenheit der Gemeinde statt. Die Freilassung war schriftlich festzuhalten und wurde im Westen oft durch den Diakon vorgelesen. Vgl. dazu auch Leges Burgundionum 3,1; Lex Ribuaria 61,1; J. Gaudemet, L’église, S. 566f.; H. Grieser, Sklaverei, S. 136-139; S. Esders, Early medieval use. Nach Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,4 führte die Freilassung in der Kirche immer zur Erlangung des römischen Bürgerrechts.. Was auch immer eine Person – oder Geistliche – bezüglich ihrer Unfreien, nachdem man ihnen die Freiheit geschenkt hat, einräumen will, das kann sie nach römischem Gesetz13 Entsprechende Regelungen finden sich etwa in der Breviarium Alarici, Epitome Gai 1. tun, das bedeutet sie mag Latinerin, Deditizierin14 Bereits E. Rozière, Recueil 1, S. 89 und K. Zeumer, Formulae, S. 30 haben darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Hapaxlegomenon dolitia mit einiger Wahrscheinlichkeit um eine Nebenform zu dediticia handeln muss. Personen mit Deditizierstatus waren zwar frei, genossen aber keine Bürgerrechte. oder römische Bürgerin15 Das eigentlich männliche cives = civis wird hier offenbar weiblich gebraucht, da es sich auf die freigelassene ancilla bezieht. sein16 Bis zur Verleihung des Bürgerrechts an alle Untertanen 212 kannte das römische Recht mit civis Romanus, Latinus und dediticius drei Formen des Bürgerrechts. Nach der Verleihung wurde diese Unterscheidung nur noch auf die Freigelassenen angewendet. Der civis Romanus zeichnete sich dabei gegenüber den anderen beiden Formen durch die Fähigkeit aus, Testamente zu errichten und selbst testamentarisch bedacht zu werden. In die Gruppe der dediticii fielen dagegen solche Freigelassene, die zuvor als Sklaven für bestimmte Verbrechen bestraft worden waren. Vgl. dazu Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,1-4; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 120-122; D. Liebs, Vier Arten. Freilassungen in der Kirche brachten demnach den Status des civis Romanus mit sich. Die Sonderstellung der Latiner und dediticii wurde im Osten von Justinian aufgehoben (Codex Justinianus 7,5,1; Institutiones 1,5,3). Auf die drei Arten von Freigelassenen wird auch in Formulae Bituricenses 9 verwiesen. Paris, BN lat. 4416, fol. 50v (wohl 9. Jh.), nennt in der Glossierung zu Epitome Gai 1,1-4 abgestufte Wergelder für die drei Formen: 40 solidi für den civis Romanus (100 falls es sich um einen possessor handelte), 35 für den Latinus, 20 für den dediticius gegenüber 200 für den Franken. Vgl. dazu auch D. Liebs, Vier Arten, S. 462; D. Trump, Die Tironiana, S. 607f.. Sie soll den besseren Stand haben; sie soll die Macht haben, ein Testament zu verfassen, Zeugnis abzulegen, zu kaufen, zu verkaufen, zu schenken und zu tauschen, so wie alle anderen römischen Bürger; damit sie keinem, weder einem unseren Erben noch Nacherben17 Die proheredes sind indirekt Erbberechtigte, also diejenigen, die anstelle der Erben das Erbe erben, wenn die Erben das Erbe nicht erben (können). , irgendeinen Dienst in irgendeiner Weise schulden, soll man weder den Dienst der Liten18 Beim letimonium = litimonium handelt es sich um den Gehorsam und die Dienstpflicht eines Liten. Bei den Liten scheint es sich um eine heterogen zusammengesetzte Gruppe gehandelt zu haben, zu der etwa auch Handwerker, Freigelassene und Romanen gehörten. Zunächst scheinen sie eher in Richtung der servi verortet gewesen zu sein, später in Richtung der Freien. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts finden sich liti vor allem als Pächter mit festen Dienst- und Abgabepflichten. Vgl. dazu J. Balon, Lètes; G. v. Olberg, Freie, S. 153 und 162f.; A. Rio, Half-free, S. 131f., noch eine Abgabe für den Schutzherrn, noch irgendeinen Gehorsam demselben gegenüber einfordern19 Freigelassene blieben seit der römischen Zeit an den freilassenden Herrn gebunden und traten in seine Patronatsgewalt, verbunden mit Schutz (defensio, auch patrocinium, tuitio oder mundeburdium) durch diesen, ein. Patronat und Schutz waren verbunden mit der Verpflichtung zu bestimmten Diensten (operae libertorum) sowie zu obsequium, der Pflicht zu Gehorsam gegenüber dem Patron (hier offenbar durch den Begriff obedientia ersetzt). Beide entwickelten sich im frühen Mittelalter zu unauflöslichen und erblichen Verpflichtungen. Vgl. dazu A. Rio, Slavery, S. 75-79; S. Esders, Formierung, S. 23-32; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 140 Anm. 14; J. Barschdorf, Freigelassene, S. 88f. und 251; N. Carrier, Usages, S. 54-57. Nur in äußerst seltenen Fällen scheinen Freigelassene in der Lage gewesen zu sein, ihren Schutzherren selbst zu wählen. So sieht die Lex Ribuaria 58,1 für die Freilassung durch Urkunde in jedem Fall den Eintritt des Freigelassenen in den Schutz einer Kirche vor. Vgl. S. Epperlein, Die sogenannte Freilassung, S. 96; J.-P. Devroey, Puissants, S. 270f., aber sie mögen dorthin gehen20 Bei hiant handelt es sich um eine hyperkorrekte orthographische Variante zu eant, bei der e und i vertauscht und ein anlautendes h hinzugefügt wurden. In Auvergne 4 finden wir auch die Schreibweise iant (nisi iant et maneant); zu diesen Erscheinungen vgl. P. Stotz, Handbuch 3, VII §17.1, S.25 und § 119.1-4, S. 158-160. Bereits K. Zeumer, Formulae, S. 30 hat darauf hingewiesen, dass hiant als eant zu lesen ist. und verweilen, wo auch immer sie wollen, da ihnen die Tore offen stehen21 Vgl. zu porte aperte auch Lex Ribuaria 64 (61),1: Si quis servum suum aut libertum fecerit et civem Romanum portasque apertas conscribserit, si sine liberis dicesserit, non alium quam fiscum habeat heredem.; sie sollen wissen, dass sie selbst römische22 Bei romanae handelt es sich hier um eine orthographische Variante von romane = romani; zu dieser immer wieder zu beobachtenden Schreibvariante P. Stotz, Handbuch 3, VII §30, S. 40f. Bürger23 Bis zur Verleihung des Bürgerrechtes an alle Untertanen 212 kannte das römische Recht im civis Romanus, Latinus und dediticius drei Formen des Bürgerrechts. Nach der Verleihung wurde diese Unterscheidung nur noch auf die Freigelassenen angewendet. Der civis Romanus zeichnete sich dabei gegenüber den anderen beiden Formen durch die Fähigkeit aus, Testamente zu errichten und selbst testamentarisch bedacht zu werden. Vgl. dazu Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,1-4; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 120-122; D. Liebs, Vier Arten. Freilassungen in der Kirche brachten demnach den Status des civis Romanus mit sich. sind. Den Schutz sowohl durch die Kirche als auch durch gottesfürchtige Menschen24 Das (h)ominem steht an dieser Stelle offenbar für ein hominum, diese seltene Verwechslung der Form von Akkusativ im Singular und Genitiv im Plural erscheint so auch in derselben Konstruktion in Auvergne 4. Bereits K. Zeumer, Formulae, S. 30 hat auf die richtige Lesart hingewiesen. Eine freie Handhabung im Umgang mit der Genitivform im Plural lässt sich innerhalb der Sammlung auch bei Auvergne 1 beobachten, wo einmal personarum für personae eintritt (duxerunt … personarum … carta[m]). werden sie freilich überall einfordern wollen; wir fügen die Freiheiten hinzu, in allen Belangen das zu tun, was auch immer sie wollen werden. Und so von denselben jemand gezeugt werden wird, sollen sie Freigeborene bleiben. Falls freilich jemand …