ES BEGINNT EIN APPENNIS1 Derartige appennis-Dokumente sind lediglich in den Formelsammlungen des gallo-fränkischen Raumes belegt (vgl. auch Angers 31 und Angers 33; Auvergne 1; Tours 27, Tours 28 und Formulae Turonenses Additamenta 7; Cartae Senonicae 38 und Cartae Senonicae 46). Mit ihnen wurde bei einem Verlust von Dokumenten der von Zeugen festgestellte Besitzstand gesichert. Mit appennis konnte dabei sowohl das Dokument als auch das wohl auf römische Wurzeln zurückgehende mit der Ausstellung einhergehende Verfahren bezeichnet werden. Spätestens im 8. Jahrhundert scheint neben den appennis die Möglichkeit der Appellation an den König in derartigen Fällen getreten zu sein. Vgl. dazu K. Zeumer, Ersatz; Ch. Lauranson-Rosaz/A. Jeannin, Résolution; W. Brown, When documents are destroyed. Bei der hier vorliegenden Formel handelt es sich tatsächlich um den zweiten Schritt, der für die Erlangung eines appennis notwendig war, nicht um einen appennis selbst.
Jeder, der in einer bestimmten Provinz von2 Hier ad für ab, zur Vermischung von ad, a und ab P. Stotz, Handbuch IV, IX § 111.16, S. 408. Raubgesindel, Verbrechern3 Der scelerator ist „derjenige, der durch Frevel befleckt“/„… ein Verbrechen begeht“ = „Frevler“/„Verbrecher“ (wie der klass. sceleratus)., Aufrührern oder Mordbrennern Gewalt oder Schaden erdulden musste, soll dies den führenden Bürgern und den Kurialen der Provinz, in der das geschehen sein soll, offen verkünden und durch öffentliche Anzeige kenntlich machen4 Vgl. auch Bourges B 3..
Als der vir apostolicus und Herr, der Bischof Soundso und der vir illustris, der Graf Soundso mit den übrigen ehrenwerten und bedeutenden Männern im Staate in der Stadt Angers zum Nutzen der Kirche und wegen einer bedeutenden Rechtsangelegenheit5 Hier negacio = negotio. Eigentlich negotium principale = causa (im rechtlichen Sinne), hier ist jedoch negotium „Rechtsangelegenheit“, „Prozess“ und principalis „bedeutend“ gemeint. eine Sitzung abhielten6 Die Versammlung mit Bischof und Graf übernimmt in diesem Fall offenbar die Aufgaben der wohl eigentlich zuständigen städtischen curia. Zu vermuten ist, dass an der Versammlung auch die Mitglieder der curia teilnahmen. In jedem Fall stellte die Versammlung den notwendigen Grad an Öffentlichkeit her, der für die Ausstellung des appennis notwendig war., kam ein Mann namens Soundso dorthin. Und sie brachten7 Zu erwarten wäre bei einer Konstruktion mit einer handelnden Personen suggeret statt suggerent. Da auch im Folgenden stets 3. Pers. Pl. benutz wird, handelt es sich offenbar um eine Personengruppe, zu welcher der homo gehört oder die den homo begleitet. Die unten erwähnten „Anwohner, die ringsum leben“ (vicinis circa manentis), scheinen den homo also begleitet zu haben. Möglicherweise handelt es sich aber auch hier wieder um ein Versatzstück, das nicht richtig angepasst wurde (eine handelnde Personen statt mehrerer), die weiteren Pluralformen wären damit „Folgefehler“. zusätzlich auch [die Angelegenheit] seines Hauses am Soundso genannten Ort öffentlich zur Sprache. [Und zwar] deshalb, weil Männer in böser Art und Weise in finsterer Nacht zu seinem Haus am Soundso genannten Ort gekommen wären, seine Türen zerschlagen hätten und seinen Besitz nach Diebesart8 Die causis furtis (hier causis für causas) bezeichnen die Umstände oder Bedingen zu denen die Dinge verschwanden. fortgeschafft hätten: das Gold, das Silber, alle anderen Kostbarkeiten9 Die species eigentlich die „Waren“ oder daraus abgeleitet im übertragenen Sinn „Gewürze“ bzw. „Spezereien“ werden in Texten des Frühmittelalters häufig Synonym mit den pretiositates („Kostbarkeiten“) gebraucht (Gewürze sind überaus kostbar!): Nam magni ibidem thesauri ex auro argentoque et multarum specierum reperti sunt (Gregor von Tours, Historiarum libri X, VI,28)., die Kleidung, seine Geschmeide, die ehernen Gefäße und viele weitere Sachen10 Die fraglichen res sind hier die im Einzelnen noch nicht aufgeführten Bestandteile der beweglichen Habe also „alles was noch nicht genannt wurde“. zusammen mit den Urkunden11 Die redundante Junktur (in)strumenta c(h)artarum legt den Fokus auf die rechtkräftige Beurkundung der Besitzverhältnisse., den Verkaufsschreiben12 Wohl verkürzt von emptio venditio (nach römischem Recht der formfreie Konsensualvertrag, mit dem eine Übereinkunft über den Austausch von Waren gegen Geld getroffen wurde) etablierte sich in der Spätantike venditio als Bezeichnung für Kaufverträge aller Art. Vgl. dazu E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 208f.; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 385f.; T. Mayer-Maly, Kauf, Tausch und pacta, S. 606-609; K.-O. Scherner, Kauf, Sp. 1665f., Schuldscheinen13 Die cautio löste in der Spätantike die Stipulationsurkunde als Schuldschein ab. Sie enthielt zumeist Angaben über den Empfang eines Darlehens, die Gewährung eines Pfandes sowie die Verpflichtung zur Rückzahlung nach einer bestimmten Frist nebst einer Strafklausel. Wurde das Darlehen zurückgezahlt, wurde die cautio zurückgegeben. Vgl. dazu M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 377-379; H. Siems, Handel und Wucher, S. 410-412., Abtretungen14 Bereits in der Spätantike hatte sich cessio, ursprünglich nur für Forderungsabtretungen gebraucht, zum wichtigsten Begriff für Eigentumsübertragungen entwickelt. Vgl. E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 149f.; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 274 und 452 Anm. 4; T. Mayer-Maly, Kauf, Tausch und pacta, S. 606., Schenkungen15 Mit donatio wurde im römischen Recht die Schenkung bezeichnet. Seit Konstantin dem Großen war die donatio ein Geschäftstyp eigener Art, der wie der Kauf den Übergang des Eigentums unmittelbar bewirkte. Wie dieser musste sie vor Zeugen stattfinden, schriftlich niedergelegt und öffentlich registriert werden. Vgl. dazu E. Levy, West Roman vulgar law, S. 138f.; M. Kaser, Das römische Privatrecht II,S. 394-399., Gaben16 Die dos bezeichnet im Wortsinn die Schenkung oder die Gabe, in der römischen Tradition zumeist konkret die Brautgabe. Vgl. zur dos u.a. Ch. Lauranson-Rosaz, Douaire et sponsalicium; R. Le Jan, Aux origines du douaire médiéval., Sühneschreiben17 Die conposcionalis = compositionalis (eigentlich „die compositio betreffend“) bezeichnet hier die Art des Dokuments, in dem eine compositio (hier „Buße“, „Wiedergutmachung“) festgehalten wird. Der Begriff compositio setzte sich im 5. Jahrhundert als Bezeichnung für Buß- und Schadensersatzzahlungen durch. Die frühmittelalterliche compositio besaß demgegenüber eine erweiterte Bedeutung, die neben der Zahlung, nun mit Ausgleichs-, Befriedungs- und Straffunktion, auch die über die Konfliktbeilegung zwischen Täter- und Opferseite getroffene Vereinbarung umfasste. Vgl. dazu E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 305-309; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 425-427; E. Schumann, Kompositionensystem, Sp. 2003-2006., Übertragungen18 Aus conferre (inf. Perfekt contulisse) „darbringen“, „hergeben“, „angedeihen lassen“, „erweisen“ oder „übertragen“. Eine contulicio ist als Rechtsdokument oder Rechtsvorgang nicht weiter bekannt. Tours 17 und Tours 18 verwenden contulicio im Kontext der zwischen Eheleuten gefassten Übereinkunft, dass im Falle des Ablebens eines der Partner dem anderen das Eigentum des Verstorbenen zufallen solle, synonym zur donatio., Verträgen19 Im römischen Recht diente pactum zur Bezeichnung formloser Vereinbarungen unterschiedlichsten Inhalts. Vgl. E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 37-42; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 363 und 437f., Tauschurkunden20 Die commutatio diente im frühen Mittelalter neben concambium und permutatio als eine der Bezeichnungen für die vielfältigen Formen von Tauschvorgängen, deren gemeinsames Element die Gegenseitigkeit des Vorganges war. Vgl. dazu I. Rosé, Commutatio., Übereinkünften21 Als convenientia wurden im spätantiken römischen Recht rechtliche Übereinkünfte zwischen zwei Individuen sowie deren schriftliche Fixierung bezeichnet. Im frühen Mittelalter verschob sich die Bedeutung von convenientia hin zu manchmal vorläufig, meist in mündlicher Form getroffenen Vereinbarungen, insbesondere in Verbindung mit Streitbeilegungen aber auch an Bedingungen oder Versprechen geknüpften Transaktionen. Vgl. E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 17; A. J. Kosto, The convenientia., Sicherheiten22 Bei der securitas handelte es sich nach römischem Recht um eine schriftliche Quittung, die als Erfüllungsbeweis diente. Im frühen Mittelalter konnten securitates darüber hinaus auch ausgestellt werden, um Konflikte mittels einer Friedenszusicherung zwischen Parteien abzuschließen. Vgl. dazu M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 441; P. Classen, Fortleben und Wandel, S. 33., Ungültigkeitsbescheinigungen23 Die (e)vacuaturia erfüllte einen doppelten Zweck: Sie machte verloren gegangene Dokumente ungültig und bestätigte zugleich den in diesem festgehaltenen Rechtsstand. Vgl. dazu H. Brunner, Die fränkisch-romanische Urkunde, S. 537-541., Urteilen und Belegschreiben24 Als notitia wurden seit der Spätantike Aufzeichnungen, Nachrichten und Verzeichnisse unterschiedlichster Art bezeichnet. Vgl. dazu A. Langeli, Private Charters, S. 216f.; H. Zielinski, Notitia, Sp. 1286., den Verbindlichkeiten25 Obligatio bezeichnete im römischen Recht ein Schuldverhältnis, durch welches ein Schuldner einem Gläubiger zu einer Leistung verpflichtet war und durch ein Rechtsgeschäft, aber auch durch eine unerlaubte Handlung entstehen konnte. Vgl. dazu M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 329-332. und viele weitere Unterlagen26 Die fraglichen res sind hier im Gegensatz zu oben die im Einzelnen noch nicht aufgeführten Rechtstitel bzw. die zugehörigen Schriftstücke., die im Einzelnen anzugeben lange dauert. Und daher [brachten sie zur Sprache]27 Die Periode unde … accessisse, ist ein ACI der immer noch von suggerent abhängt (Hyperbaton)., dass die vielen Ländereien in seinem Besitz den Kauf durch dieselben Urkunden bezeugen und dass am folgenden Tag die Nachbarn28 Anhand der Form vicinis = vicines für vicini, lässt sich ein Wechsel der Deklination des Wortes vicinus „Nachbar“ von der o-Deklination in die konsonantische Deklination beobachten, der durch die Form vicinum als Gen.Pl. am Ende der Formel bestätigt wird. Die “Nachbarschaft” vicinitas war im spätantiken Recht eine eigene Institution, die bei Grundbesitzfragen in Erscheinung trat. Dazu A. Laquerrière-Lacroix, La vicinitas, S. 247-252., die ringsum leben, gemeinsam mit rechtschaffenen Außenstehenden zu einer örtlichen Zusammenkunft an denselben Ort gekommen wären, und diese [Ländereien] von ihrer Hand bestätigt hätten. Und wegen der Dinge, die ihnen bekannt waren29 Von cognitum „das Bekannte“, „das Erfahrene“. So etwa bei Walahfrid, Carm. 50,2,7: Compono certis manifestans cognita rithmis., legten sie einen Bericht vor, der vor den oben genannten (Stadt-)Ältesten30 Die senioris = seniores bezeichnen offenbar das Gremium, das aus dem Bischof, dem Grafen und den „übrigen ehrenwerten und bedeutenden Männern“ gebildet wurde; möglicherweise handelt es sich dabei um eine alternative Bezeichnung für die in Angers 1 erwähnte curia von Angers. Das senior betont hier die besondere Würde der Mitglieder und nicht das Lebensalter. Im auszeichnenden Sinne von „vornehm“ oder „führend“ erscheint senior z.B. auch bei Gregor von Tours, Historiarum libri X, VIII,31: Magnus tunc omnes Rothomagensis cives et praesertim seniores loci illius Francos meror obsedit. Zum Umgang mit Senior M. Bonnet, Le latin de Grégoire, S. 452. verlesen werden sollte. Anhand desselben erkannten die (Stadt-)Ältesten, dass derselbe Fall sich solcherart ereignet hatte und geschehen war. Dann forschte man mit Umsicht derart nach: Man hörte31 Das Verb sublegere (eigentlich „heimlich wegnehmen“ bzw. „belauschen“) wird hier wertfrei als Synonym zu (ex)audire gebraucht. dieselben rechtschaffenen Außenstehenden [und] die Nachbarn, die ringsum leben, die da anwesend waren und die allerbestens über die Sache informiert waren. Das, was sie darüber wussten, mussten sie auch wahrheitsgemäß berichten. Auf diese Weise aber lieferten sie demselben Mann solcherart ein Zeugnis, dass sie, nachdem sie das Schreiben studiert hatten, das der Soundso ihnen vorlegte, darin übereinstimmten, dass seine Anzeige wahrheitsgemäß sei. Da er unter solchen Umständen die bekannten Dinge zur Gänze verlor32 Die vorliegende Übersetzung fasst devolgata = divulgata als Akk. Pl. neutr. auf. K. Zeumer, Formulae, S. 15 liest divulgata als Nom. Sg. fem. und emendiert caruit zu claruit „Da unter solchen Umständen die bekannte Sache zur Gänze geklärt war“; A. Rio, The formularies, S. 75 folgt und übersetzt relativ frei „And since the matter was thus clarified in all ist particulars“., verkündeten der obenerwähnte Bischof33 Der Begriff pontifex (klassisch der „Priester“) ist wie episcopus eine von insgesamt sieben seit der Spätantike gebräuchlichen Bezeichnungen für Bischof. Nach dem Formelbuch Bischofs Salomon III v. Konstanz (890-919) (E. Dümmler, Das Formelbuch, XLV, S. 59f.) lauten die „sieben Namen des Bischofs“ pontifex, presbyter, praesul, papa, sacerdos, episcopus und antistes. und derselbe Graf und alle, die bei ihm waren, infolgedessen demselben Soundso, dass demselben, was auch immer er über Jahresläufe hinweg von jenem Zeitpunkt34 Das eo tempore dient hier als Platzhalter. an bis heute richtig und rechtmäßig besessen hatte, nach Abschluss35 Die Handschrift überliefert obsolve was vermutlich für absolute = absoluto steht und mit principale negocio einen Abl. abs. ergibt. der bedeutenden Rechtsangelegenheit dem rechten Gang entsprechend, gemäß des unleugbaren Gesetzes, weiterhin als sein Besitz diene und dass sie seinen Erben gewährten, es zu halten und zu besitzen. Und wegen der Gegenwart und der Zukunft ziemte es sich, dass diese Urkunde, die appennis heißt, die von der Hand der vorgenannten (Stadt-)Ältesten und seiner übrigen Nachbarn bestätigten [Ländereien] übernehmen sollte [und] bestätigt werden musste. Dies geschah so auch, auf dass er zwei gleichartige appennes erhalten sollte, die man über diese Angelegenheit bekräftigte, einen, den derselbe bei sich zurückbehalten sollte, und einen, der auf einem öffentlichen Marktplatz ausgehängt wird.
Es wurde ausgehängt.