Formulae - Litterae - Chartae: Leseumgebung

Marculf I,28 (deu)

Königliche Anordnung zur Prüfung eines Eigentumsstreits

Königliche Anordnung an einen Grafen auf Klage eines Getreuen (1) zur Prüfung eines Streitfalles desselben mit einer aus dem Gau des Grafen stammenden Person um Grundeigentum, (2) zur Entschädigung des Klägers durch den Beklagten oder (3) zur Vorführung des Beklagten mit Beweisen nach Bürgennahme vor den König zu einem bestimmten Zeitpunkt.

ANHÖRUNGSURKUNDE^{1 Bei audient(i)alis handelt es sich um ein nachklassisches Adjektiv, das entsprechend der lateinischen Wortbildungsmöglichkeiten aus audientia „Vermehmung“, „Anhörung“ abgeleitet wurde.}

König Soundso an den vir illuster^{2 Zwei jüngere Fassungen des Marculf-Materials (P16, Ko2) beziehen den Titel des vir illuster eindeutig auf den König (Ko2: Ille rex uir inluster illo comite; P16: Ille rex uel inluster illo comite) und folgen damit bereits der karolingischen Konvention.} Graf Soundso.

Unser Getreuer Soundso kam mit der Gnade des Herrn in unsere Gegenwart und legte der Milde unserer Herrschaft dar, dass der Soundso, ein Einwohner eures Gaus, demselben sein Land an dem Soundso genannten Ort mit Gewalt^{3 Bei fortia handelt es sich um ein neugebildetes feminines Abstraktum auf -ia aus dem Adjektiv fortis „stark“ bzw. „kräftig“ und wird hier wie ein violentia gebraucht. Die fortia lebt u.a. im (alt-)französischen force weiter. Derartige Ableitungen sind keineswegs selten und wurden wie im Falle von fortia noch durch eine gleichlautende im Neutrum Plural Form legitimiert. Zu den neugebildeten Abstrakta auf -ia vgl. P. Stotz, Handbuch 2, § 43.1, S. 283 und P. Stotz, Handbuch 4, § 12.7, S. 38-40.} entrissen habe und unrechtmäßigerweise für sich^{4 An dieser Stelle lässt sich die „baukastenartige“ Struktur der Formeln erkennen. Die Wendung post se bedeutet eigentlich „bei sich“; die Formulierung stimmt wortwörtlich mit Marculf I,27 überein, wo der geraubte Besitz jedoch ein Sklave und damit beweglich ist, und ist eigentlich nicht ganz passend, wurde jedoch mechanisch-technisch an die „übliche“ Stelle gesetzt.} behielte und er aus diesem Grund bei demselben keine Gerechtigkeit erlangen könne. Daher sandten wir die vorliegende Anordnung an Euch, durch die wir vollumfänglich befehlen, dass Ihr denselben Soundso derart zur Rechenschaft zieht, dass er sich bemühe, falls es sich derart verhält, den schongenannten Soundso in dieser Angelegenheit den Gesetzen entsprechend zu entschädigen^{5 Diese Form des Mandates im Sinne eines Auftrages des Königs an einen Amtsträger zur Aufklärung eines Streitfalles ähnelt stark den römischen Kaiserreskripten. Eng verwandt mit diesen Mandaten ist auch DMerov 77. P. Classen, Kaiserreskript, S. 143f. Vgl. zu diesen Formeln auch O. Guillot, La justice dans le royaume franc, S. 686-689, und zu dieser Form des Mandates T. Reuter, Mandate, S. 420.}. Falls er das in der Tat nicht will und er nicht rechtskräftig^{6 Das Adverb recte „mit recht“, bzw. „gut“ oder „ordentlich“ wird hier in dem Sinne gebraucht, dass es den Gesetzlichen Vorgaben entspricht, also mithin „rechtskräftig“ ist.} vor Euch [damit] aufhört, sollt Ihr euch bemühen, ihn, nachdem für den erwähnten Soundso Bürgen^{7 Fideiussores (Bürgen) finden sich kaum in den fränkischen leges, häufig jedoch in den Kapitularien. Ihre Hauptrolle war die des Erfüllungsgaranten. Als solche sollten sie nicht nur bei Ausfall der verbürgten Person einspringen, sondern vor allem auch ihre Autorität einsetzen, um auf diese im Vorfeld einzuwirken und zur Erfüllung zu bewegen. Vgl. dazu H. Siems, Fideiussores, S. 110-117 und 130; W. Ogris, Die persönlichen Sicherheiten, S. 141f.} genommen^{8 Die Bildung tultus-a/-um als Partizip Perfekt von tollere (statt sublatus/-a/-um) ist im Frühmittelalter weit verbreitet und hält sich noch im Hochmittelalter; dazu P. Stotz, Handbuch 4, §118.14, S. 212 und §120.2, S. 214f.} wurden, samt jeglicher [zugehöriger] Dinge^{9 Mit dem Übeltäter sollten offenbar auch alle etwaigen „Beweise“ (Urkunde und sonstige Schriftstücke, sowie mögliche Zeugen) an den Königshof gebracht werden.} an den Kalenden^{10 Bei den Kalenden handelt es sich nach dem römischen Kalender um den ersten Tag des Monats.} des Soundso in unsere Gegenwart zu führen^{11 Konnte der vir illuster vor Ort also keine Einigung herbeiführen, ging der Fall vor das Königsgericht. Zum Königsgericht vgl. M. Weidemann, Kulturgeschichte I, S. 265-278; W. Bergmann, Untersuchungen, S. 69-102; P. Fouracre, Placita, S. 24.}.