SCHREIBEN WEGEN EINES MÖNCHES, DER AUS DEM KLOSTER GEFLOHEN SEIN SOLL
An den Herrn Soundso, Soundso.
Wir, die wir uns Eurer gewiss sind, bringen es Eurer Heiligkeit zur Sprache, weil sie von Frömmigkeit beseelt die Wahrheit nicht verschmäht und der rechte Glaube es niemals duldet, dass man ihn irgendwie verwirft1 Der Satz ist deutlich an die Sentenz Veritatem sapientis animus non recusat, nec fides recta aliquando patitur quamcumque iacturam benevolentiae divine reputare debere aus dem Brief der Helena in den Actus Silvestri angelehnt, der ebenfalls in die Formelsammlung aus P3 (Flavigny Pa 1) aufgenommen wurde.. Weiterhin sollt ihr erfahren, dass unser Bruder Soundso, der im Kloster mit uns erzogen wurde und die Tonsur empfing2 Seit dem 6. Jahrhundert war die Tonsur fester Bestandteil der Priester- und Mönchsweihe und war vom Bischof oder Abt am zu Weihenden durchzuführen. Zunächst bedeutete dies lediglich das Schneiden der Haare; seit dem Ende des 6. Jahrhunderts verbreitete sich dagegen die Kronenform. Für Kleriker symbolisierte die Tonsur Zugehörigkeit zu Gott; für Mönche wiederum war sie ein Zeichen der Bescheidenheit, der Unterwerfung und der Buße. Vgl. dazu C. Bock, Tonsure monastique; L. Trichet, La tonsure., der vor Gott und seinen Heiligen Gehorsam und3 Hier hac = ac. Beständigkeit4 Die stabilitas bezieht sich hier sowohl auf den klösterlichen Lebenswandel als auch auf das Verbleiben am Klosterort (stabilitas loci). Zusammen mit Gehorsam (oboedientia) und einem den Buchstaben und dem Geist der Regel entsprechenden Lebenswandel (conversatio morum) gehörte sie zu den drei Dingen, die ein Mönch bei der Aufnahme in die Gemeinschaft geloben musste (Regula Benedicti 58,17). Vgl. dazu auch H. Lutterbach, Monachus factus est, S. 274f. und 282-285; A. de Vogüé, La formation, S. 52-58. versprach5 Dieses Gelübde wurde in der Profess (professio, vgl. auch Flavigny Pa 6) auch schriftlich festgehalten. Zur Profess nach der Regula Benedicti vgl. insb. R. Hombach, Das Kapitel 58; J. Leclercq, Profession, für das frühe Mittelalter insb. S. 117-124. und selbst in unser Amt des Klerikerstandes geweiht wurde, dasselbe vergessen hat, von uns fortging und zum Teufel zurückgekehrt ist, so wie ein Hund zu seinem Erbrochenen zurückkehrt und die Sau sich in der Suhle des Drecks wälzt6 Der Autor zitiert hier den zweiten Petrusbrief, der wiederum Sprüche 26,11 zitiert., und jetzt weltliche Ehren schätzt, Schätzen und irdischen Gütern nachjagt, nun bei Euch lebt7 Der unerlaubte Fortgang von Mönchen aus ihrem Kloster stellte ein anhaltendes Problem dar. Ziele konnten die Pilgerschaft (peregrinatio), der Wechsel in ein anderes Kloster oder, wie hier, die Rückkehr in den Laienstand sein. Entsprechende Regelungen finden sich seit dem 5. Jahrhundert in Synodal- und Konzilsakten sowie königlicher und kaiserlicher Gesetzgebung. Vgl. dazu J. Leclercq, Documents sur les fugitifs, insb. S. 87-91 und J. Semmler, Peregrinatio und stabilitas, S. 58-63 mit einem Überblick über die einschlägigen Bestimmungen und Beschlüsse.. Ihr sollt daher von allem erfahren, was göttliche Einsichten mit Worten, Beredsamkeit und Verständnis an Heiligem lehren, dass nämlich Keiner, der seine Hand an den Pflug legt und zurückblickt, geeignet ist für das Königreich Gottes, und es soll Euch nicht verborgen bleiben, was die heiligen Kanones in dieser Sache empfehlen und was die Regel sowie die heiligen Exegeten dargelegt haben. Während Ihr dies hier zur Gänze nochmals lest, folgt auswendig dem, was Ihr mit lechzendem Geist aufgesogen habt, denn die heilige Versammlung von Nicäa8 Das erste Konzil von Nicäa im Jahr 325. legt fest, dass man, falls jemand im Kloster zu höchster Ergebenheit erzogen wurde und danach fortgehen sollte, wenn er nicht umkehrt, ihn des Vergehens eines Fahnenflüchtigen schuldig sprechen soll9 Eine entsprechende Bestimmung findet sich so nicht in den Bestimmungen von Nicäa. Schon K. Zeumer, Formulae, S. 491 wies allerdings auf eine gewisse Übereinstimmung mit Kanon 12, der sich mit Soldaten befasst, die sich dem Christentum zugewandt haben, jedoch zum Militärdienst zurückkehren.; und außerdem: Falls jemand einen fremden Mönch aufnimmt, müssen beide exkommuniziert werden10 Hier wird mit einiger Sicherheit auf Kanon 16 rekurriert, der die Aufnahme flüchtiger Kleriker in andere Kirchen verbietet, allerdings nur dem Flüchtigen die Exkommunikation androht.. Die Kanones von Chalkedon11 Das Konzil von Chalkedon fand 451 statt. geben es freilich derart vor, dass ein Mönch bei Gebet und Fasten an dem Ort verbleibe, an dem er der Welt entsagt hat; sie legen fest, dass einer, der flieht, exkommuniziert werde12 Vgl. Concilium Chalcedonense 451, c. 4: Monachos vero per unamquamque civitatem aut regionem subiectos esse episcopo et quietem diligere et intentos esse tantummode ieiunio et orationi, in locis in quibus renuntiaverunt saeculo permanentes. […] Nullum vero recipere in monasteriis servum optentu professionis monachicae praeter sui domini conscientiam. Transgredienteum vero hanc definitionem nostram excommunicatum esse decrevimus…. Die Kanones von Agde13 Die Synode von Agde fand 506 statt. Die Beschlüsse sind ediert bei C. Munier (Hg.), Concilia Galliae a. 314 – a. 506, Turnhout 1963 (= CCSL 148), S. 189-228, hier S. 205, c. 27. entscheiden wiederum so: „Keiner soll es wagen, einen Mönch aufzunehmen, falls er nicht mit Erlaubnis seines Abtes zu einem anderen Kloster kommt.“ Die Kanones von Autun14 Das Konzil von Autun fand um 670 in der Amtszeit Bischof Leodegars (~660 bis 677) statt. Nur wenige Beschlüsse sind erhalten geblieben. Die erhaltenen Bestimmungen sind auf breiter Handschriftenbasis ediert bei H. Mordek/R.E. Reynolds, Bischof Leodegar und das Konzil von Autun, S. 84-92, hier S. 89, c. 12. K. Zeumer, Formulae, S. 491, der noch den spätbarocken Druck G. D. Mansi (Hg.), Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Bd. 11, Florenz 1765, Sp. 123-126 zugrunde legt, verweist auf Kanon 10. Auch die älteren kritischen Ausgaben F. Maassen (Hg.): Concilia aevi Merovingici, Hannover 1893 (= MGH Concilia 1), S. 220f.; hier S. 221 und Ch. de Clerq (Hg.), Concilia Galliae a. 511 – a. 695, Turnhout 1963 (= CCSL 148A), S. 318-320, hier S. 319, die mit einer schmaleren handschriftlichen Grundlage operieren, ordnen den Beschluss noch unter dem zehnten Kanon ein. Zu Leodeger und seinem Verhältnis mit dem benediktinischen Mönchtum vgl. H. Mordek/R.E. Reynolds, Bischof Leodegar und das Konzil von Autun, S.71-83, zu den Problemen der älteren Edition ebd. S. 84. setzen freilich fest, dass keiner es wage, einen Mönch von anderswoher ohne Erlaubnis seines Abtes aufzunehmen. Die Regel des heiligen Benedikt, die derselbe in allen Belangen einzuhalten versprach, mag es freilich so ausdrücken: „ Er muss wissen, dass er dem Gesetz der Regel unterstellt ist, und dass es ihm von diesem Tage an nicht erlaubt sei, das Kloster zu verlassen oder seinen Nacken aus dem Joch der Regel herauszulösen15 Regula Benedicti 58,15f.“; und bald darauf: „Er soll wissen, dass er von diesem Tage an nicht einmal die Verfügungsgewalt über seinen eigenen Leib haben wird16 Regula Benedicti 58,25..“ Was soll ich noch wiederholen? Gebraucht Euren gelehrten Verstand, dann es ist für mich nicht nötig, Euch weitere Worte zu schreiben! Alle Dinge, die nämlich von mir noch gesagt werden könnten, hat die göttliche Gnade Euch bereits dargeboten. Es ist nämlich nötig, dass man ein das Leben eines Gläubigen mit einer Lehre im Zaum hält. Sich überaus ernsthaft zu den Dingen zu bekennen, die man beachten muss, wird kein Schaden sein. Sorgt also gemäß der Weisheit, die Euch von Gott gegeben ist, dafür, dass jener an den Ort zurückkehrt, von dem er entschwunden ist! Und ihr müsst Buße tun, weil Ihr ferner wisst, dass jemand, der einen Sünder dazu bewegt, sich vom Fehler seines Lebenswandels zu bekehren, seine Seele vom Tod bewahren wird und eine Vielzahl von Sünden überdeckt. Auch ziemt es sich für Euch nicht, einem Menschen, der nach den Sehnsüchten seines Herzens im Verkehrten wandelt, Unterstützung zu gewähren, so dass er mehr und mehr in den Untergang schreite, sondern beseitigt das Böse aus euch selbst, denn wer Pech berührt, wird von ihm befleckt werden! Und kann etwa ein Mensch an seiner Brust Feuer verbergen, ohne dass seine Kleider brennen, oder über glühende Kohlen gehen, ohne dass seine Sohlen verbrannt werden? So wird, wer dem Ungerecht zustimmt, nicht rein sein17 Der letzte Teil variiert den abschließenden Teil des Bibelverses (Prv 6,29) „So wird, wer zur Frau seines Nächsten hineingeht, nicht rein sein, wenn er sie berührt“ (sic qui ingreditur ad mulierem proximi sui non erit mundus cum tetigerit eam). Mit diesem, der exkommuniziert ist, mit dem wollt Ihr euch nicht gemeinmachen, so dass Ihr den Lohn Eurer guten Taten nicht verliert, sondern es verdient, mit den heiligen Vätern, die diesen Menschen derart exkommuniziert haben, Anteil [daran] zu haben. + Und wo auch immer er sein mag, soll man ihn gemäß der Weisung der Kanones zu seinem Abt zurückbringen. Ein Kanon von Chalkedon18 Concilium Chalcedonense 451, c. 10.: „Es ist nicht gestattet, dass ein Kleriker sich zwei Kirchen zugleich verschreibe, sowohl jener, in der er geweiht wurde, als auch jener, zu welcher er aus Gier nach eitlem Ruhm gleichsam als der besseren geflohen ist. Daher sollen sie aber dafür sorgen, dass sie zu der Kirche zurückkehren müssen, in der sie anfangs geweiht wurden, und nur dort dienen. Jene aber, die so dreist waren, etwas von den Dingen, die verboten sind, zu begehen, sollen von dem ihnen zu eigenen Weihegrad zurücktreten19 Es handelt sich um eine verkürzte Wiedergabe, bei der das eigentliche Subjekt und Prädikat ausgelassen wurden (Eos … decrevit sancta synodus proprio huiusmodi gradu recidere). .“ Und dass kein Kleriker, der ohne irgendeinen vorliegenden guten Grund herumstreift, nachdem er seine Kirche verlassen hat20 Das derelictam ecclesiam suam steht für ein derelicta ecclesia sua; möglicherweise hat der Schreiber hier bewusst die Akkusativform als abweichende Graphie genutzt, um den Ablativus absolutus von der nachfolgenden Ablativkonstruktion nulla causa existente probabile zu trennen., von anderen Kirchen zur Gemeinschaft aufgenommen werde. Ein Kanon von Orléans21 Das erste Konzil von Orléans fand 511 statt. Die Beschlüsse sind ediert bei Ch. de Clerq (Hg.), Concilia Galliae a. 511 – a. 695, Turnhout 1963 (= CCSL 148A), S. 3-19, hier S. 10, c. 19.: „Umherstreifende Diener, die an irgendwelchen Orten geweiht worden sein sollen22 Die Formulierung ministri, in quibuscumque locis ordinati findet sich so nicht in den Beschlüssen des ersten Konzils von Orléans. Die Wendung stammt vielmehr aus dem zweiten Kanon des Konzils von Arles im Jahr 314, der sich ebenfalls mit der stabilitas geweihter Personen befasst: De his qui in quibuscumque locis ordinati fuerint ministri: in ipsis locis perseuerent. Bereits K. Zeumer, Formulae, S 492 hat darauf hingewiesen, dass der Halbsatz nicht aus Orléans stammt. Die Beschlüsse von Arles sind ediert bei C. Munier (Hg.), Concilia Galliae a. 314 – a. 506, Turnhout 1963 (= CCSL 148), S. S. 3-6, hier S. 5., soll man, wo immer man sie auch auffinden mag, mit Hilfe des Bischofs gleich Flüchtlingen unter Bewachung zurückbringen; und jener Abt soll lernen, dass er künftig schuldig sein wird, der Personen keine derartige der Regel entsprechende Strafe auferlegt, oder der einen fremden Mönch aufnimmt.“