ZUR AUSFERTIGUNG EINES TESTAMENTS1 Die vorliegende Formel basiert auf dem Testament des Wideradus (traditionell als grand testament bezeichnet). Das Testament liegt in einer kritischen Ausgabe bei C. B. Bouchard (Hg.), The cartulary of Flavigny, 717-1113, Cambridge, Mass. 1991, Nr. 57, S. 135-139 vor. Eine überarbeitete Fassung des Testaments findet sich darüber hinaus auch unter Nr. 1, S. 19-28. Das Testament gibt anno primo regnante Theoderico rege sub die xv kalendarum Februariarum als Zeitpunkt der Niederschrift an, aufzulösen mit dem 18. Januar 722 (zu den Regierungsdaten Theuderichs IV. vgl. M. Weidemann, Chronologie II, S. 205f.). C. B. Bouchard, The cartulary of Flavigny, S. 13-16, datiert das Testament auf den 18. Januar 717 und legt es damit zeitlich vor die ebenfalls erhaltene Schenkung des Wideradus an Flavigny von 719 (traditionell bezeichnet als petit testament; Chart. Flav. Nr. 58 und Nr. 2; vgl. dazu auch die Formel Flavigny Pa+Ko 6). Zu Widerads Dokumenten vgl. insb. J. Marilier, Notes sur la tradition. Der Text des Testaments wurde bei der Umarbeitung zur Formel erheblich gekürzt und gestrafft: Umfangreiche Güterlisten sind zu (Plural-)Formen von ille/illa/illud kondensiert; sich wiederholende, nahezu identisch formulierte Übertragungen zugunsten unterschiedlicher Empfänger wurden weggelassen, gelegentlich Passagen umgestellt oder zusammengefasst. An allen Stellen, an denen sich die Anonymisierung mittels des Testaments auflösen lässt, sind die entsprechenden Namen im Kommentar genannt. Zu den Zusammenhängen der Formel mit dem Testament und der Formel Marculf II,17 vgl. U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 110-121. Nonns Beobachtungen zu Abweichungen zwischen Testament und Marculf II,17, gefolgt von seiner These, die Bearbeiter der Formel hätten die Marculf-Passagen nochmals korrigiert, lassen sich jedoch nicht bestätigen. Nonn musste für seine Beobachtungen auf den Druck des Testaments bei Pardessus zurückgreifen, der jedoch lediglich die überarbeitete Variante des Testaments (Chart. Flav. 1) und nicht das merowingerzeitliche Original (Chart. Flav. 57) benutzte. Die von ihm festgestellten Abweichen zwischen dem Widerad-Testament und Marculf II,17 gehen auf die spätere Überarbeitung des Testaments zurück.:
Unter der ewigen Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus, im Soundsovielten Jahr Königs Soundso, am 15. Tag vor den Kalenden2 Die Kalenden markieren im römischen Kalender jeweils den ersten Tag des Monats. Das Testament des Wideradus datiert auf den 15. Tag vor den Kalenden des Februars, also den 18. Januar. des Soundso, am Feiertag Soundso, in der soundsovielten Indiktion3 Bei der Indiktion handelte es sich um einen seit 248 nachweisbaren 15-jährigen Zyklus zur Jahreszählung. Die Berechnung erfolgte ausgehend vom Jahr 3 v. Chr. für den Beginn des ersten Zyklus, wobei lediglich die Zahl des Jahres innerhalb des Zyklus beachtet wurde, nicht aber die Zahl der bereits vergangenen Zyklen. Der Jahreswechsel konnte dabei je nach Zeit und Ort zum 1.9., 24.9., 25.12. oder 1.1. angesetzt werden. Vgl. dazu H. Grotefend, Handbuch, S. 16-19; A.-D. von den Brincken, Historische Chronologie, S. 77..
Ich der Soundso, Sohn des Soundso4 Wideradus, Sohn des vir illuster Corbo(n)., habe, weil ich den Verfall der menschlichen Gebrechlichkeit fürchte, mit gesundem Geist und besonnenem Sinn5 Die Formulierung sana mente integroque consilio geht auf die spätantike römische Testamentspraxis zurück und dient der Betonung des Vollbesitzes der geistigen Kräfte zum Zeitpunkt der Abfassung des Testaments, eine der Voraussetzungen für seine Gültigkeit. Vgl. U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 16 und 62-64. In ihrem formalen Aufbau folgt die hier vorliegende Formel weitestgehend der in anderen merowingischen Testamenten üblichen Praxis. Vgl. dazu U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 47-50 und 58. mein Testament6 Ein Testament im Sinne des römischen Rechts stellte einen unilateralen Rechtsakt dar, der allein dem Willen des Testators entsprang und jederzeit modifiziert oder widerrufen werden konnte. Durch ihn konnten die Erbenreihenfolge geändert und neue Erben ernannt werden. Wirksam wurde er mit dem Tod des Testators. Die römische Testamentspraxis bestand im Frankenreich bis ins 8. Jahrhundert fort, wurde jedoch zunehmend von anderen Möglichkeiten, den Nachlass zu regeln, abgelöst. Vgl. dazu U. Nonn, Merowingische Testamente; J. Barbier, Testaments, S. 7-10 und 14-18. Mit dem Verschwinden der Testamente aus der Lebenspraxis ging eine Bedeutungsverschiebung des Begriffes testamentum einher, der sich im 9. Jahrhundert vor allem als Bezeichnung für Schenkungen oder allgemein für Urkunden findet. Vgl. dazu U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 121-128. gemacht, welches ich dem Soundso zur Niederschrift anvertraut habe7 Das Wideradus-Testament nennt hier für ille den Alfredus notarius. Die Abfassung des Testaments durch einen Notar findet sich in allen merowingischen Testamenten. Die eigenhändige Abfassung von Testamenten war zwar möglich, doch galten für Testamente nach römischer Praxis strenge Formvorschriften. Nach der Abfassung wurde das Testament verschlossen und vom Testator, dem Notar und fünf oder sieben Zeugen mit Unterschrift und Siegel beglaubigt. Nach römischem Recht war es dabei möglich, dass den Zeugen das Dokument bereits in verschlossener Form vorgelegt wurde, sie dessen Inhalt also nicht kannten. Vgl. dazu Codex Theodosianus, Novellae Theodosiani II 16; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 479-481; J. Barbier, Testaments, S. 23f., damit es, ganz gleich auf welche Weise8 Hier commodo = quomodo; zu dieser typischen Variante frühmittelalterlicher Latinität vgl. P. Stotz, Handbuch 3, VII, §110.5, S. 145, Anm. 58 und §111.6, S. 149. Der Fassungen von Marculf II,17, wie auch Ko2 haben quomodo. der gesetzmäßige Tag nach meinem Tod gekommen sein wird9 Gemeint ist wohl die gesetzlich vorgegebene Frist zur Testamentseröffnung. Nach den Pauli Sententiae IV,6,3 hatte dies mindestens drei, höchstens fünf Tage nach dem Tod des Testators zu erfolgen., nachdem man die Siegel geprüft und die Schnur zerschnitten hat, wie die Bestimmung des Gesetzes es verlangt, vom vir illuster Soundso10 Das Testament nennt hier den inluster vir Amanlsindo. Der Wortlaut von Marculf II,17 geht von mehreren viri illustres aus., den ich in dieser Niederschrift unseres Testamentes als Vermächtnisinhaber eingesetzt habe, durch seine Ausführung11 Die Wortwahl prosecutione verweist hier auf die Rolle des prosecutors, eines Sachwalters, der die Vertretung der Interessen einer Person vor der curia übernehmen konnte. Vgl. dazu Angers 1. bei den gesta municipalia12 Die spätrömischen gesta municipalia dienten zunächst dazu, Wechsel von steuerpflichtigem Grundeigentum festzuhalten, entwickelten sich in der Folge jedoch zu städtischen Archiven, in welchen Rechtsgeschäfte aller Art eingetragen wurden. Die öffentliche Insinuation von Rechtsdokumenten in die gesta sicherte die Rechtskraft von Rechtsgeschäften und erhöhte im Streitfall die Glaubwürdigkeit der Dokumente. In der fränkischen Welt sind die gesta bis ins 9. Jahrhundert bezeugt, wenn auch der Rechtsvorgang der Insinuation zunehmend modifiziert wurde. Vgl. dazu B. Hirschfeld, Gesta municipalia; W. Brown, On the gesta municipalia; J. Barbier, Archives oubliées. des Gemeinwesens in den Rechtstiteln von denselben gesichert werde13 Das Wideradus-Testament folgt bis zu diesem Punkt Marculf II,17. Die hier beschriebene Praxis der Testamentseröffnung folgt dem römischen Recht (Pauli Sententiae IV,6,1) und konnte eingebettet in eine öffentliche Zeremonie erfolgen. Die Inserierung des geöffneten Testaments durch vorbestimmte Personen in die gesta municipalia scheint in merowingischer Zeit noch weit verbreitet gewesen zu sein. Vermutlich erhielt der Testamentsvollstrecker eine auf den gesta basierende Kopie. Vgl. dazu U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 93-100; J. Barbier, Testaments, S. 23-27.; und ich habe entschieden, dass es in den Archiven der Kirche des heiligen Soundso verwahrt werden soll; ich habe nämlich dafür gesorgt, dass all das aus meiner eigenen Habe, von dem ich entschieden habe, dass es irgendjemand gehören soll, einzeln in dieses mein Testament eingetragen werde. Für alles Übrige aber, welcher Art oder was auch immer es sei, sollen die Schreiben oder Testamente sowie Schriftstücke in meinem Namen, die von meiner Hand bekräftigt wurden, [und] die irgendjemand [einmal] vorlegen wird und die vor diesem Testament abgefasst wurden14 Der in diesem Satz zu Tage tretende freie bzw. neue Umgang mit Formen und Deklinationen ist ein deutliches Symptom der sich ankündigenden Ablösung des Romanischen vom Lateinischen., die ich hier nicht wiederholt habe, dauerhaft ungültig sein, ausgenommen jene über die Freilassungen15 Die ingenuitas bezeichnet eigentlich der Stand der Freigeborenen und wird hier als Begriff für den Rechtsakt gebraucht, mit dem eben jener Zustand bei einem Unfreien (nachträglich) herbeigeführt wird, wörtl. also eine „Freigeborenmachung“. Seit der Spätantike konnten Freilassungen in unterschiedlichster Form stattfinden: in Kirchen, vor Amtsträgern, durch Brief, Testament oder anders mitgeteilte Willenserklärung. Entscheidend war dabei die Anwesenheit von Zeugen. Vgl. dazu A. Nitschke, Freilassung, S. 223f., die ich für mein Seelenheil veranlasst habe oder in Zukunft veranlassen will. Und was ich jedem einzelnen durch dieses Testament vermacht haben oder zu vermachen befohlen haben werde, das vertraue ich Dir, oh Allmächtiger Gott, als Zeuge an, damit es geschehe, vollbracht, geleistet und erfüllt werde. Darum gab ich, weil es allgemein bekannt ist, dass ich – so beschied es Gott – den Stätten der Heiligen, des Soundso und des Soundso16 Die Form illorum sanctorum ist Plural; es ist nicht klar, wie viele loca hier gemeint sind. Das der Formel zugrundeliegende Testament des Wideradus nennt sancti Andochii Sedelocinse (Saint-Andoche in Saulieu), sancte Regine Alsinse (Alise-Sainte-Reine) und sancti Ferreoli (Saint-Férreol), vgl. C. B. Bouchard, The cartulary of Flavigny, S. 135., damit sie etwas haben, aus meiner eigenen Habe etwas dauerhaft zum Besitz übertragen habe, auch an die Kirche Soundso17 Das der Formel zugrundeliegende Testament nennt hier die bereits zuvor als beschenkt erwähnte Kirche S. Andochii (Saint-Andoche). Besitzteile von mir und die im folgenden genannten Orte, das sind Soundso und Soundso18 Die Form illa ist Plural; es ist nicht klar, wie viele loca hier gemeint sind. Das der Formel zugrundeliegende Testament führt eine sehr umfangreiche Liste von Besitzungen in unterschiedlichen Gauen an, vgl. C. B. Bouchard, The cartulary of Flavigny, S. 136f.. Alles, was ich an den oben aufgezählten Orten habe, soll den oben aufgezählten Kirchen vollständig und zur Gänze zum Wachstum gereichen.
Jene Abtretungen19 Bereits in der Spätantike hatte sich cessio, ursprünglich nur für Forderungsabtretungen gebraucht, zum wichtigsten Begriff für Eigentumsübertragungen entwickelt. Vgl. E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 149f.; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 274 und 452 Anm. 4; T. Mayer-Maly, Kauf, Tausch und pacta, S. 606. aber, die haben wir an unsere Freigelassenen Soundso und Soundso20 Die Form illos ist Plural; es ist nicht klar, wie viele liberti hier gemeint sind. Das der Formel zugrundeliegende Testament nennt die beiden Kleriker Chisbertus und Grinbertus (libertos nostros Chisberto et Grinberto clericos). zur Bekräftigung ihrer Freilassung getätigt: Es sind Soundso und Soundso21 Das der Formel zugrundeliegende Schriftstück nennt hier zwei colenta = colenda also, „bestellbare Landstücke“ bzw. „Hofstellen“ (dua colenda(s) in Bornatuo et in Ceresio).; wir haben dieselben einmal für unser Seelenheil als Freie entlassen, sodass sie diese, solange sie leben, halten mögen und sie nach ihrem Hinscheiden samt allem, was dazugelegt wurde, an die schongenannte Kirche des heiligen Soundso, wo wir ihnen Schutz und Schirm bestimmt haben, zurückgeben müssen. Wir wollen nämlich, dass die Freien22 Das ingenuus steht hier für ein ingenuos, das für ingenui eintritt. Die Austauschbarkeit von u und o, wie auch das Eintreten der Akkusativ- für die Nominativform sind häufig anzutreffende Erscheinungen in fränkischen Texten des Frühmittelalters und kündigen den Übergang vom Lateinischen zum Romanischen an., die wir [zu Freien] gemacht haben und künftig noch machen werden, wie viele auch immer an denselben Orten leben, die wir an die heilige Kirche Soundso übertragen haben, nachdem man ihre Freiheit geprüft hat, als Freie auf denselben Ländereien leben sollen. Und sie sollen nicht die Macht haben irgendwo anders zu leben, sondern sie müssen von denselben heiligen Stätten abhängig23 Das Wort sperare „(er)hoffen“ findet sich in fränkischen Rechtstexten immer wieder im Sinne von „abhängig sein“. Grundlage scheint das „Erwarten“ von Schutz und Hilfe zu sein, das nun vom subjektiven Empfinden zur objektiven Beschreibung wird, vgl. dazu P. Stotz, Handbuch 2, V, §15.7, S. 40. Nur in äußerst seltenen Fällen scheinen Freigelassene in der Lage gewesen zu sein, ihren Schutzherren selbst zu wählen. So sieht die Lex Ribuaria 58,1 für die Freilassung durch Urkunde in jedem Fall den Eintritt des Freigelassenen in den Schutz einer Kirche vor. Vgl. S. Epperlein, Die sogenannte Freilassung, S. 96. Mit dem Eintritt in den Schutz (defensio, auch patrocinium, tuitio oder mundeburdium) verbanden sich eigentlich die Pflicht zum obsequium (Gehorsam), zu bestimmten Leistungen beim Tod des Freilassers sowie zu einer jährlichen Abgabe. Vgl. dazu S. Esders, Formierung, S. 24-30; J.-P. Devroey, Puissants, S. 270f. sein und keiner von denselben soll unseren Erben irgendwie den Dienst der Liten24 Beim letimonium = litimonium handelt es sich um den Gehorsam und die Dienstpflicht eines Liten. Bei den Liten scheint es sich um eine heterogen zusammengesetzte Gruppe gehandelt zu haben, zu der etwa auch Handwerker, Freigelassene und Romanen gehörten. Zunächst scheinen sie eher in Richtung der servi verortet gewesen zu sein, später in Richtung der Freien. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts finden sich liti vor allem als Pächter mit festen Dienst- und Abgabepflichten. Vgl. dazu J. Balon, Lètes; G. v. Olberg, Freie, S. 153 und 162f.; A. Rio, Half-free, S. 131f. leisten25 Freigelassene blieben seit der römischen Zeit an den freilassenden Herrn gebunden und traten in seine Patronatsgewalt ein. Damit einher ging die Verpflichtung zu bestimmten Diensten (operae libertorum) sowie zu obsequium, der Pflicht zu Gehorsam gegenüber dem Patron. Beide entwickelten sich im frühen Mittelalter zu unauflöslichen und erblichen Verpflichtungen. Vgl. dazu A. Rio, Slavery, S. 75-79; S. Esders, Formierung, S. 23-32; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 140 Anm. 14; J. Barschdorf, Freigelassene, S. 88f. und 251; N. Carrier, Usages, S. 54-57.. Und bezüglich dessen, was wir irgendeinem von ihnen durch Urkunden gegeben haben, sollen sie keinesfalls die Erlaubnis haben, es irgendwo anders hin zu verkaufen oder es zu entfremden.
In gleicher Weise haben wir an das Kloster Soundso, dem Abt Soundso vorsteht, die Landgüter Soundso und Soundso26 Die Form illas ist Plural; es ist nicht klar, um wie viele villae es geht. geschenkt und wir wollen, dass die Schenkung von Dauer sei, samt allem, was dazu gehört und davon abhängt, wieviel auch immer wir eben dort halten und besitzen, uns aus irgendeiner27 Das qualibet steht hier für ein quolibet. Die Ausbreitung von qua- und seinen zusammengesetzten Formen und ihr Eintreten für die entsprechenden flektierten Formen mit qui-/quae/quod ist typisch für die frühmittelalterliche Latinität. Zu diesem Phänomen vgl. P. Stotz, Handbuch 4, VIII, §68, S. 135f. Erwerbung zukommt oder uns rechtmäßiger Weise zukommen muss. Vollständig und zur Gänze übergeben wir es samt allem oben dargelegten vom heutigen Tage zu Ehren des Heiligen Soundso und an Abt Soundso zum Besitz; samt Häusern, Gebäuden, Unfreien, Landpächtern28 Der accola (acolabus ist eine Nebenform zu accolis) bezeichnet ursprünglich den „Anwohner“/„Nachbar“, abgeleitet aus accolere „in der Nähe wohnen“. Die Volksrechte (u. a. Lex Baioariorum I,13) setzen den accola dann mit dem colonus gleich. Spätestens in der Karolingerzeit bezeichnet accolae im übertragenen Sinn dann auch das Land, das von Pächtern bewirtschaftet wird (Annales Bertiniani a. 866)., Freigelassenen29 Freigelassene verblieben nach ihrer Freilassung zumeist in der Patronatsgewalt ihres Freilassers. Dessen Schutz war häufig mit der Verpflichtung zu exakt festgelegten Diensten und Abgaben verbunden. Im Laufe des Frühmittelalters wurde libertus zunehmend zu einem vererbbaren Stand, während sich zugleich die Beziehung zwischen Freigelassenem und Freilasser zunehmend entpersonalisierte. Seit dem 8. Jahrhundert scheinen die Grenzen zwischen liberti und servi, aber auch zwischen liberti und ingenui durch die Fixierung der Lasten zunehmend verschwommen zu sein. Vgl. dazu J.-P. Devroey, Puissants, S. 270; A. Rio, Slavery, S. 75-79; H. Grieser, Sklaverei, S. 150-153; S. Esders, Formierung, S. 23 und 30-33; H.-W. Goetz, Serfdom, S. 34; W. Rösener, Vom Sklaven zum Bauern, S. 85-87., sowohl den dort geborenen als auch denen, die von anderswoher übertragen wurden und dort leben, den Weinbergen, Wäldern, Feldern, bestellten und unbestellten Ländereien, Wiesen, Weiden, den stehenden und fließenden Gewässern samt den Ab- und Zuflüssen30 Bei exsus handelt es sich um eine häufige Nebenform zu exitus., jeder Art von Nutzvieh, sowohl Groß- als auch Kleinvieh, der beweglichen und der unbeweglichen Habe, allem forderungsfreien Besitz, sowohl dem Gold als auch dem Silber und sonstigen Geschmeiden, sowohl dem Kirchengerät als auch den Urkunden31 Die redundante Junktur instrumenta chartarum legt den Fokus auf die rechtskräftige Beurkundung der Besitzverhältnisse., den Büchern und Kirchengewändern und allen Hilfsmitteln, die mir dort zu Lebzeiten gehören und man mir wieder zurückgibt, und allem, was auch immer ich nennen oder aufzählen kann. Vollständig und zur Gänze soll dies dem schon genannten Kloster des heiligen Soundso zum Wachstum gereichen, nachdem man jene Urkunde geprüft hat, die ich schon früher für das schon genannte Kloster ausgefertigt habe32 Diese Passage ist aus zwei Satzteilen des der Formel zugrundeliegenden Testaments zusammengesetzt. Gemeint ist wohl Widerads Schenkung an das Kloster, Chart. Flav. 58..
Über all dies hinaus haben wir unseren Erben als falcidisches Pflichtteil33 Die römische Rechtspraxis sah einen Pflichtteil von einem Viertel (quarta Falcidia) für die gesetzlichen Erben vor, der diesen auch bei abweichenden Regelungen von Todes wegen zustand. Vgl. M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 514f.; N. Tamassia, La falcidia. die Landgüter Soundso und Soundso34 Die Form illas ist Plural; es ist nicht klar um wieviele villae es geht. Das der Formel zugrundeliegende Testament des Wideradus (Chart. Flav. 57) gibt eine umfangreiche Liste an Landgütern an, die den Erben als Pflichtteil hinterlassen werden. vorbehalten, dies freilich unter der Bedingung, dass sie sich bemühen müssen, das von mir Erreichte in jeder Hinsicht zu bewahren und zu verteidigen. Denn, falls sie es vernachlässigen sollten, dies zu tun, sollen sie alles, was wir ihnen zukommen ließen, verlieren und von der Gesamtheit meines Vermögens ganz und gar ausgeschlossen werden. Und falls ich irgendetwas gekauft haben werde oder mir irgendetwas von meinen Eltern zugefallen sein wird oder ich irgendetwas erworben haben werde oder irgendetwas durch irgendeinen35 Das qualibet steht hier für ein quolibet. Die Ausbreitung von qua- und seinen zusammengesetzten Formen und ihr Eintreten für die entsprechenden flektierten Formen mit qui-/quae/quod ist typisch für die frühmittelalterliche Latinität. Zu diesem Phänomen vgl. P. Stotz, Handbuch 4, VIII, §68, S. 135f. Kunstgriff an uns gelangt sein wird, was wir in eben diesem Testament oben nicht erwähnt haben, soll es nach unseren Hinscheiden das Haus des heiligen Soundso durch seine Leiter zum dauerhaften Besitz erhalten36 Nach römischem Recht war dieser Passus eigentlich überflüssig, da das Testament seine Rechtswirksamkeit erst mit dem Tod des Erblassers erhielt. Die Praxis, dennoch auf derartige Veränderungen am Besitzstand hinzuweisen, findet sich allerdings in zahlreichen merowingerzeitlichen Testamten. Vgl. U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 76.. Durch das vorliegende Testament setzte ich die Kirche des heiligen Soundso37 Wideradus setzte die Abtei St.-Prix in Flavigny (eclesia sancti Preiecti) zum Erben ein. zu meinem Erben ein. Und alles, was auch immer ich jedem einzelnen zukommen ließ, vertraue ich deiner Treue an38 Bei dieser Passage handelt es sich um eine Kurzfassung der auf die römische Praxis zurückgehenden caput generale-Klausel, einer allgemeinen Aufforderung, für die Durchsetzung der einzelnen Bestimmungen des Testaments zu sorgen. Ein Beispiel für diese Klausel in römischer Zeit bietet ein ravennatisches Testament von 552 (J.-O. Tjäder, Nichtliterarische Papyri I, S. 214): Quisquis mihi heredis erit, heredisve erunt, ego eorum omnia fidei conmitto. Quod cuique hoc testamentum meum dedero, legavero, darive iussero, fieri mandavero fideivae conmisero, ut id ut detur, fiat, praestitur, fidei heredum meorum conmitto. Quoscumque autem liberos esse iussero vel voluero, hii liberi sint toti fiantque. Vgl. dazu U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 21f., 49 und 72-74. , weil ich lieber möchte, dass Du das hast, was ich Dir zukommen ließ, als dass ich es habe, lieber Du als meine übrigen Erben und Nacherben39 Vgl. Breviarium Alarici, Pauli Sententiae II,24,6 Interpetatio (nam in donationibus, quae mortis causa fiunt, haec verborum solennitas custoditur: “Illum agrum aut illam domum te malo habere quam me, te quam heredes meos.”).
Falls aber irgendjemand, was künftig – glaube ich nicht – geschehen wird, sei es einer meiner Erben oder Nacherben oder irgendein Gegner, es wagen sollte, dieses mein vorliegendes Testament40 Ein Testament im Sinne des römischen Rechts stellte einen unilateralen Rechtsakt dar, der allein dem Willen des Testators entsprang und jederzeit modifiziert oder widerrufen werden konnte. Durch ihn konnten die Erbenreihenfolge geändert und neue Erben ernannt werden. Wirksam wurde er mit dem Tod des Testators. Die römische Testamentspraxis bestand im Frankenreich bis ins 8. Jahrhundert fort, wurde jedoch zunehmend von anderen Möglichkeiten, den Nachlass zu regeln, abgelöst. Vgl. dazu U. Nonn, Merowingische Testamente; J. Barbier, Testaments, S. 7-10 und 14-18. Mit dem Verschwinden der Testamente aus der Lebenspraxis ging eine Bedeutungsverschiebung des Begriffes testamentum einher, der sich im 9. Jahrhundert vor allem als Bezeichnung für Schenkungen oder allgemein für Urkunden findet. Vgl. dazu U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 121-128. zu brechen, oder sich herausnimmt, es auf die Probe zu stellen, soll er zunächst solange, bis er sich durch wahre Besserung auf den rechten Weg bringt, Gott und den Heiligen als Widersacher gelten und von den Schwellen der Kirchen ausgestoßen werden und darüber hinaus muss er demjenigen, den er misshandelt hat, zusammen mit dem beteiligten fiscus soundsoviele41 Das Testament beziffert die Strafsumme auf 30 librae Gold und 50 pondua Silber. Pfund Gold bezahlen42 Bei Bußzahlungen an geschädigte Parteien ging in der Regel die Hälfte oder ein Drittel der Summe an den fiscus, der wiederum ein Drittel dieser Summe dem für die Rechtsprechung zuständigen Amtsträger überließ (so auch, wenn der fiscus selbst Empfänger der gesamten Bußzahlung war). Die Beteiligung des fiscus sollte wohl auch als Anreiz für dessen Vertreter dienen, im Falle eines Rechtsstreites zu intervenieren. Vgl. dazu J. Durliat, Finances publiques, S. 219; S. Esders, Eliten und Strafrecht, S. 268., er wird gezwungen sein zu zahlen, und weiterhin soll das vorliegende Schriftstück festen Bestand haben, welches ich mit meiner eigenen Hand unterfertigt und mit den Zeichen und Bestätigungen von Männern guten Leumunds43 Als boni homines wurden Männer bezeichnet, denen ob ihrer Lebensführung hohe Vertrauens- und Glaubwürdigkeit zukam und die zumeist wohl der lokalen Elite angehörten. Sie agierten unter anderem auch als Zeugen, Urteiler, Schlichter und Vermittler. Vgl. zu ihnen K. Nehlsen-von Stryk, Die boni homines; T. Szabó, Zur Geschichte der boni homines. zu bekräftigen beschlossen habe.
Samt hinzugefügter eidlicher Zusicherung44 Die Stipulationsformel wies in römischen Urkunden ursprünglich auf ein mündliches, an Frage- und Antwortform gebundenes Leistungsversprechen hin, mit welchem eine Partei gegenüber einer anderen eine Verpflichtung einging. Die Anbringung der Formel an den Vertrag wirkte rechtskonstituierend, auch wenn der mündliche Vollzug der Stipulation nach und nach entfiel. In fränkischer Zeit scheint das Bewusstsein für die Herkunft der Formel geschwunden, ihre Anbringung aber als Stärkung der Autorität und Sicherheit der Urkunde verstanden worden zu sein. Vgl. dazu; E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 34-46; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 373-382; D. Simon, Studien, S. 33-40; P. Classen, Fortleben und Wandel, S. 25-31..
Geschehen am Ort Soundso45 Das Testament gibt das castrum Flaviniacum als Ausstellungsort an.