Formulae - Litterae - Chartae: Leseumgebung

Angers 28 (deu)

Urteil wegen Grenzstreitigkeit

Protokoll über ein bedingtes Urteil durch eine Versammlung unter Vorsitz eines Amtsträgers (agens) auf Klage eines Mannes gegen einen anderen Mann wegen des Anlegens eines Grabens auf seinem Grund. Nach Befragung urteilt die Versammlung, dass sich der Beklagte durch gemeinsam mit drei Eidhelfern erbrachte Eidesleistung von dieser Klage befreien kann.

ES BEGINNT EIN URTEIL

Der Soundso kam in die Stadt Angers^{1 Angers (Frankreich, département Maine-et-Loire, chef-lieu).} vor den agens^{2Agens „der/die Tätige“ (von agere ) bezeichnet häufig den Bevollmächtigten eines Herrn (z.B. Vogt oder Meier) oder einer Institution und dient als Synonym für advocatus, villicus oder procurator; dazu C. v. Schwerin, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, S. 92.} Soundso und ferner den Soundso und die übrigen, die bei ihm waren, und klagte gegen einen Mann namens Soundso, dass der ihm einen Graben^{3 Die Form fossado steht für ein fossato als Variante zu fossa(m).} auf seinem Land am Soundso^{4 An dieser Stelle scheint ein illo ausgefallen zu sein (vgl. Angers 27, Angers 32, Angers 46 und Angers 47).} genannten Ort, der Landgut Soundso heißt [und] das zu Soundso gehört^{5 In der Bedeutung „gehören zu“ findet sich aspicere häufig in frühmittelalterlichen Urkunden und bei merowingischen Autoren (Fredegar, Chronica I,76: firmaverunt, ut Neptreco et Burgundia soledato ordene ad regnum Chlodoviae post Dagoberti discessum aspecerit).}, gegraben hätte^{6 Fränkische Gerichtsverfahren liefen, kam es zu keiner außergerichtlichen Einigung, in der Regel in mehreren Stufen ab. Zunächst lud der Kläger den Beklagten vor Gericht. Dort äußerten sie sich in Rede und Gegenrede und brachten ihre Belege vor. Mussten weitere Belege erbracht werden, wurde ein neuer Termin zu einer bestimmten Frist angesetzt. Handelte es sich dabei um den endgültigen Beweis – zu erbringen etwa durch Gottesurteil oder Reinigungseid – konnte auch ein zweizüngiges Urteil verhängt werden. Dieses ließ die Frage der Schuld offen und machte sie vom Ausgang des Gottesurteiles bzw. der Leistung des Eides abhängig, verhängte aber bei einem Scheitern derselben bereits die Strafe. Gefällt wurde das Urteil von den Beisitzern, während dessen Verkündung und Durchsetzung dem Vorsitzenden oblag. Vgl. dazu W. Bergmann, Untersuchungen, S. 14-16 und 69-73; H. Vollrath, Herrschaft und Genossenschaft, S. 61-64; I. Wood, Disputes, S. 10f.; P. Fouracre, Placita, S. 24f. und 34-41; P. S. Barnwell, The early Frankish mallus; O. Guillot, La justice dans le royaume franc, S. 691-731. In Angers scheint der Graf für Kapitalverbrechen wie Mord zuständig gewesen zu sein. Fragen um Dienstbarkeit und (Grund-)eigentum wurden hingegen vor einem Abt verhandelt, mindere Fälle wie Diebstahl oder Schädigung von Vieh wiederum vor einem agens oder praepositus.}. Und derselbe Mann gab solches zur Antwort: Dass er den Graben auf seinem Land gezogen habe, denn er habe niemals auf dem Land des Mannes Soundso gegraben^{7 Es handelt sich also offenbar um einen Grenzstreit.}. Es erschien denselben [viri] magnifici daher gut, dass der Soundso in soundsoviel Nächten mit soundsovielen Männern, die als Nachbarn^{8 Die „Nachbarschaft“ vicinitas war im spätantiken Recht eine eigene Institution, die bei Grundbesitzfragen in Erscheinung trat. Dazu A. Laquerrière-Lacroix, La vicinitas, S. 247-252.} rings um dieselbe Gemarkung^{9 Bei der condita handelte es sich wohl um eine Untereinheit des pagus, ähnlich der vicaria, die neben dem territorialen Bezug auf Einwohner desselben rekurrieren konnte. Verweise auf die condita finden sich seit dem frühen 8. Jahrhundert vor allem im unteren Loiretal und der bretonischen Mark. Vgl. dazu J.-P. Brunterc’h, Le duché du Maine, S. 83f.; J. F. Boyer, Pouvoirs et territoires, S. 370.} wohnten, mit seiner Hand wären es vier^{10 Offenbar wurde hier das Auslöschen der Zahl vergessen. Es gab demnach drei vicini, die in der Formel jeweils mit ihrer Schwurhand gleichgesetzt wurden.} [Hände], in der Kirche des vorzüglichen^{11 Das senior betont hier die besondere Würde und nicht das Lebensalter. Im auszeichnenden Sinne von „vornehm“ oder „führend“ erscheint senior z.B. auch bei Gregor von Tours, Historiarum libri X VIII,31: Magnus tunc omnes Rothomagensis cives et praesertim seniores loci illius Francos meror obsedit. Zum Umgang mit Senior M. Bonnet, Le latin de Grégoire, S. 452. Möglicherweise handelt es sich bei der basilica domni illius senioris um die Kathedralkirche Saint-Aubin von Angers, die an anderer Stelle (Angers 50) sowohl als eclesia seniore loci und ecclesia seniores loci erscheint. Vgl. dazu G. Jarousseau, Églises, S. 82f.} Herrn Soundso für seine Unschuld beschwören^{12 Die Formulierung excusare meint hier nicht „entschuldigen“ in dem Sinne, dass er um Verzeihung bittet und seine Schuld damit getilgt ist, sondern excusare fungiert hier als Gegensatz zu accusare „anklagen“ und meint „entschuldigen“ in dem Sinne, dass er durch einen Reinigungseid von dem Vorwurf befreit also ent-schuldigt wird. Die Idee des Reinigungseides scheint bereits in der römischen Zeit Verbreitung gefunden zu haben (vgl. dazu S. Esders, Reinigungseid; I. Wood, Disputes, S. 14-18; für O. Guillot, La justice dans le royaume franc, S. 701f. dagegen stellt der Reinigungseid eine Abkehr von der römischen Rechtspraxis dar). Der Reinigungseid konnte den materiellen Beweis ergänzen oder ersetzen. Die Eidhelfer dienten durch ihr Wissen oder durch den durch sie ausgeübten sozialen Druck der Unterstreichung der Glaubwürdigkeit des Schwörenden. Zumeist finden sich 2, 3, 6, 7 oder 12 (oder eine Multiplikation einer dieser Zahlen) Personen in dieser Rolle, wobei das Gewicht des geleisteten Eides mit der Zahl der Eidhelfer zugenommen zu haben scheint. Vgl. dazu S. Esders, Reinigungseid, S. 58-62; Ph. Depreux, La prestation de serment, S. 521-532.} müsse, dass er auf dessen Land niemals in übler Weise gegraben hätte. Wenn er das leisten könne, solle er ruhig und sicher verbleiben, falls er das aber nicht könne, muss er demselben Mann gegenüber Genugtuung leisten.