Formulae - Litterae - Chartae: Leseumgebung

Sens A 63 (deu)

Freilassung zum Tag des Hinscheidens

Anfang der Freilassung eines Sklaven oder einer Sklavin in den Status der vollen Freiheit durch eine Person zum Tag des Hinscheidens des Freilassers.

VORREDE^{1 Die Formel wurde aus der Marculf-Sammlung übernommen, wo sie als Marculf II,33 unter dem Titel ingenuitas (ITEM INGENUITAS ALIO MODO POST DISCESSUM) Teil einer kleinen Subsammlung von Freilassungen ist (Marculf II,32-34). Die Formel wird damit im Verbund von P12 doppelt überliefert.}

An seinen geschätzten Soundso – oder die Soundso – der Soundso. Anbetracht der Treue und deines Dienstes^{2 Zum servitium und der Bedeutung von Unfreiheit im frühen Mittelalter vgl. u.a. H.-W. Goetz, Serfdom; Ch. Verlinden, Esclavage; P. Bonnassie, Slavery; H. Nehlsen, Sklavenrecht; H. Grieser, Sklaverei; A. Rio, Slavery.}, auf welche Art Du mir dienstbar bist, löse ich Dich zur Vergebung meiner Sünden von allen Fesseln der Knechtschaft; dies freilich unter der Bedingung, dass Du mir, solange ich am Leben sein werde, dienen musst. Nach meinem Tod und Hinscheiden aber, sollst Du, falls Du mich als Letztlebender zu Grabe tragen solltest, ein Freigeborener^{3 Mit dem Begriff ingenuus wurden bereits in der römischen Kaiserzeit Freigeborene bezeichnet, gegenüber denen die Freigelassenen lange Zeit eingeschränkte Rechte genossen. Die Formulierung „jemanden freigeboren zu machen“ fordert demgegenüber die Erlangung der vollen Freiheit durch den Freilassungsakt. H. Grieser, Sklaverei, S. 135-143.} sein, gerade so, als ob Du von freigeborenen Eltern gezeugt worden wärest^{4 Vergleichbare Formulierungen finden sich außerhalb der Formelsammlungen lediglich in den in Gallien kaum bekannten Digesten Justinians im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der vollen Freiheit (XL 11,2: si ingenuus natus esset; XL 11,5: si ingenuus factus medio tempore maculam servitutis non sustinuisset). Das im gleichen Raum stark rezipierte Breviarium Alarici kennt diese Formulierung dagegen nicht, sondern geht bei der Freilassung von der Erlangung des Bürgerrechts als Römer, Latiner oder dediticius aus (Breviarium Alarici, Epitome Gai 1). Möglicherweise spielt sie auf die hier ebenfalls vorhandene Definition des Freien (Ingenuos, qui ingenui nati sunt), die den Rechtsstellungen der Freigelassenen gegenübergestellt wird. Zur Freilassung in den fränkischen Formelsammlungen vgl. auch D. Liebs, Vier Arten.}. Und Du musst keinem meiner direkten oder mittelbaren Erben^{5 Die proheredes sind indirekt Erbberechtigte, also diejenigen die anstelle der Erben das Erbe erben, wenn die Erben das Erbe nicht erben (können).} oder sonst irgendwem einen Dienst leisten^{6 Freigelassene blieben seit der römischen Zeit an den freilassenden Herrn gebunden und traten in seine Patronatsgewalt, verbunden mit Schutz (defensio, auch patrocinium, tuitio oder mundeburdium) durch diesen, ein. Patronat und Schutz waren verbunden mit der Verpflichtung zu bestimmten Diensten (operae libertorum) sowie zu obsequium, der Pflicht zu Gehorsam gegenüber dem Patron. Beide entwickelten sich im frühen Mittelalter zu unauflöslichen und erblichen Verpflichtungen. Vgl. dazu A. Rio, Slavery, S. 75-79; S. Esders, Formierung, S. 23-32; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 140 Anm. 14; J. Barschdorf, Freigelassene, S. 88f. und 251; N. Carrier, Usages, S. 54-57. Nur in bestimmten Fällen scheinen Freigelassene in der Lage gewesen zu sein, ihren Schutzherren selbst zu wählen. So sieht die Lex Ribuaria 58,1 für die Freilassung durch Urkunde in jedem Fall den Eintritt des Freigelassenen in den Schutz einer Kirche vor. Vgl. S. Epperlein, Die sogenannte Freilassung, S. 96; J.-P. Devroey, Puissants, S. 270f.}. Dir sei als Eigenvermögen^{7 Mit peculium wurde seit der Antike das Eigenvermögen von Sklaven oder anderen, der patria potestas unterworfenen Personen bezeichnet. Vgl. dazu J. Barschdorf, Freigelassene, S. 139-141; S. Heinemeyer, Freikauf des Sklaven, S. 69-77.} zugestanden, was Du hast und künftig erarbeiten kannst und so weiter ...