Formulae - Litterae - Chartae: Leseumgebung

Sens A 62 (deu)

Freilassung in einer Kirche

Narratio und Dispositio der Freilassung eines Kirchensklaven in einer Kirche nach konstantinischem Gesetz in den Stand eines römischen Bürgers, bezeugt durch den freilassenden Diakon und den Anwesenden.

… soll man gemäß römischem Recht keinesfalls widerrufen^{1 Der Text der Formel beginnt mitten im Satz. Der Halbsatz secundum lege Romana nullatenus revocetur schließt unmittelbar an eine eigenständige Datierungszeile (Sens A 61) an. Hier ist ohne jeden Zweifel im Laufe der Überlieferung Text ausgefallen. Der vorliegende Halbsatz gehörte ursprünglich wohl zu einer Arenga.}.

Am Tag Soundso, im soundsovielten Jahr der Herrschaft unseres Herrn Königs Soundso, in der soundsovielten Indiktion^{2 Bei der Indiktion handelte es sich um einen seit 248 nachweisbaren 15-jährigen Zyklus zur Jahreszählung. Die Berechnung erfolgte ausgehend vom Jahr 3 v. Chr. für den Beginn des ersten Zyklus, wobei lediglich die Zahl des Jahres innerhalb des Zyklus beachtet wurde, nicht aber die Zahl der bereits vergangenen Zyklen. Der Jahreswechsel konnte dabei je nach Zeit und Ort zum 1.9., 24.9., 25.12. oder 1.1. angesetzt werden. Vgl. dazu H. Grotefend, Handbuch, S. 16-19; A.-D. von den Brincken, Historische Chronologie, S. 77.}, bezeugte der vir venerabilis Diakon Soundso vor denjenigen, die diese Tafeln unterschreiben werden^{3 Vgl. Lex Romana Burgundionum 3,1, wonach die Freilassung in der Kirche per tabulam von Bischof und Priestern oder Priestern und Diakonen zu bezeugen war.}, dass er in der Kirche Soundso zu seinem guten Lohn diesen seinen Diener namens Soundso freigelassen und durch Befreiung befreit hat, entsprechend der gesetzlichen Bestimmung Konstantins seligen Angedenkens, in welcher festgelegt ist, dass alle, die unter den Augen von Bischöfen, Priestern oder Diakonen in einer Kirche freigelassen werden, zu den Bürgern gehören und von der Kirche verteidigt werden sollen^{4 Freilassungen in Kirchen waren seit Konstantin dem Großen (†337) rechtens und hatten in Anwesenheit des Bischofs (antistes) zu erfolgen (Breviarium Alarici 4,7,1). Der Freilassungsakt fand im Kirchengebäude während des Gottesdienstes in Anwesenheit der Gemeinde statt. Die Freilassung sollte schriftlich festgehalten werden und wurde im Westen oft durch den Diakon verlesen. Vgl. dazu auch Lex Romana Burgundionum 3,1; Lex Ribuaria 61 (58),1 (hier mit explizitem Verweis auf die nach römischem Recht auszustellende tabula); J. Gaudemet, L’église, S. 566f.; H. Grieser, Sklaverei, S. 136-139; S. Esders, Early medieval use. Nach Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,4 führte die Freilassung in der Kirche immer zur Erlangung des römischen Bürgerrechts. Die Freilassung per tabulam ist hier nicht mit der Freilassung als tabuliarius zu verwechseln, von dem in der Lex Ribuaria 61 (58),1 die Rede ist. Anders als der tabuliarius wurde dieser Freigelassene zum römischen Bürger, erhielt Reise- und Testierrecht und unterstand offenbar auch nicht der Schutzherrschaft der Kirche. Zum tabularius vgl. insb. S. Esders, Formierung, S. 50-58.}; und gemäß jener Bestimmung, deren Niederschrift oben zu lesen ist, wollte er, dass jener zu den römischen Bürgern gehöre; dies freilich zu folgender Bedingung: ‚Du magst gehen wohin Du willst, Du magst dich in den Landstrich begeben, den Du willst, gerade so, als ob Du von freigeborenen^{5 Mit dem Begriff ingenuus wurden bereits in der römischen Kaiserzeit Freigeborene bezeichnet, gegenüber denen die Freigelassenen lange Zeit eingeschränkte Rechte genossen. Die Formulierung „jemanden freigeboren zu machen“ fordert demgegenüber die Erlangung der vollen Freiheit durch den Freilassungsakt. H. Grieser, Sklaverei, S. 135-143.} Eltern gezeugt und geboren worden wärest‘, und er schuldet keinem meiner direkten oder mittelbaren Erben^{6 Die proheredes sind indirekt Erbberechtigte, also diejenigen die anstelle der Erben das Erbe erben, wenn die Erben das Erbe nicht erben (können).} irgendeinen Dienst oder den Dank der Freigelassenen oder Gehorsam für die Schutzherrschaft^{7 Freigelassene blieben seit der römischen Zeit an den freilassenden Herrn gebunden und traten in seine Patronatsgewalt, verbunden mit Schutz (defensio, auch patrocinium, tuitio oder mundeburdium) durch diesen, ein. Patronat und Schutz waren verbunden mit der Verpflichtung zu bestimmten Diensten (operae libertorum) sowie zu obsequium, der Pflicht zu Gehorsam gegenüber dem Patron (hier offenbar durch den Begriff obedientia ersetzt). Beide entwickelten sich im frühen Mittelalter zu unauflöslichen und erblichen Verpflichtungen. Vgl. dazu A. Rio, Slavery, S. 75-79; S. Esders, Formierung, S. 23-32; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 140 Anm. 14; J. Barschdorf, Freigelassene, S. 88f. und 251; N. Carrier, Usages, S. 54-57. Nur in bestimmten Fällen scheinen Freigelassene in der Lage gewesen zu sein, ihren Schutzherren selbst zu wählen. So sieht die Lex Ribuaria 58,1 für die Freilassung durch Urkunde in jedem Fall den Eintritt des Freigelassenen in den Schutz einer Kirche vor. Vgl. S. Epperlein, Die sogenannte Freilassung, S. 96; J.-P. Devroey, Puissants, S. 270f.}; so wie ich es bestimmt habe, soll er unter vollständiger und rechtmäßiger Freiheit frei und sicher leben und stets zu den römischen Bürgern^{8 Bis zur Verleihung des Bürgerrechtes an alle Untertanen 212 kannte das römische Recht im civis Romanus, Latinus und dediticius drei Formen des Bürgerrechts. Nach der Verleihung wurde diese Unterscheidung nur noch auf die Freigelassenen angewendet. Der civis Romanus zeichnete sich dabei gegenüber den anderen beiden Formen durch die Fähigkeit aus, Testamente zu errichten und selbst testamentarisch bedacht zu werden. Vgl. dazu Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,1-4; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 120-122; D. Liebs, Vier Arten. Freilassungen in der Kirche brachten demnach den Status des civis Romanus mit sich.} gehören, er soll auch in jeder Hinsicht die uneingeschränkte Macht dazu haben, ein Testament zu machen. Falls aber irgendjemand…