GESCHICHTCHEN1 Der Brief ist durchgehend in Reimprosa verfasst: Die einzelnen Glieder bzw. Kola einer Sinneinheit, die durch Sprechpausen abgegrenzt werden, sind jeweils miteinander gereimt. Es handelt sich dabei nicht um eine Form von Lyrik, sondern um einen bewusst gesetzten Schmuck der Prosa, der dem Brief allerdings eine artifizielle Dichte verleiht und ihn von gewöhnlicher (Brief-)Kommunikation abgrenzt. Ein fester Rhythmus oder ein Metrum ist nicht zu erkennen. Vgl. dazu auch D. Shanzer, The Tale, S. 392-396; zur Reimprosa allgemein K. Pohlheim, Lateinische Reimprosa, S. IX und S.320f.
An meinen Herrn Frodebert2 Bischof Chrodobert von Tours (663-682). Vgl. zu diesem Y. Hen, Changing Places, S. 228f. Vgl. ebd. für die Hypothese, Chrodobert sei zuvor Bischof von Paris gewesen., den Gottlosen, der weder ein Heiliger noch ein Bischof oder [auch nur] ein Weltgeistlicher3 Gemeint sind wohl die Landpriester (presbyter parrochiani), denen die Betreuung der Kirchen im ruralen Raum oblag. Vgl. zu diesen R. Godding, Prêtres, S. 240-255; S. Patzold, Presbyter, S. 90-158. ist.
Dort [bei Dir] herrscht der alte Feind4 Der „alte Feind“ ist der Teufel. Die Junktur antiquus hostis ist bereits in der alten Kirche bei Cyprian von Karthago, Ad Fortunatum, praef. 5 (†258) belegt. der Menschheit. Wer es mir nicht glaubt, soll Deine Taten betrachten:
Jener [alte Feind] muss Dein Begehren sein, denn Du liebst Gott nicht und Du glaubst auch nicht an den Sohn Gottes; Du hast stets Böses getan. Angesichts des Feindes hältst Du Dich für klug in Deinem Urteil, doch wir glauben, dass Du lügst. Wahrlich, Du fürchtest Christus nicht und er ist Dir auch nicht gewogen. Du tust stets die Werke desjenigen, den Du liebst. Auch Deine Eltern5 Über die Eltern Chrodoberts ist nichts bekannt. liebten Christus nicht, als sie Dich im Kloster zeugten. Dein Vater tat mit [eurem] Herrn6 D. Shanzer, The Tale, S. 399f. emendiert domno zu domna mit der Bedeutung „the nun“ und übersetzt „your father did not do sacred work with the lady“. keine heiligen Werke. Dafür befreite Dich [euer] Herr zu Lebzeiten mit dem Finger7 Eine derartige Freilassungsform ist nicht bekannt. Möglicherweise handelt es sich um eine Anspielung auf die Freilassung per Schatzwurf. Fingergesten zur Bekräftigung von Handlungen sind sonst im 10. und 11. Jahrhundert für das ostfränkische Reich belegt; vgl. Thietmar von Merseburg, Chronicon IV,76 (Cui haec omnia profitenti et digito, ut ipse peciit, confirmanti flens respondit…); D Ko II. 111 (primo incurvatis digitis secundum morem Saxonicum). Zu Handgebärden im Rechtskontext vgl. R. Schmidt-Wiegand, Gebärdensprache; R. Schmidt-Wiegand, Gebärden, insb. Sp. 1963f. Chrodebert wäre demnach unfreier Abkunft gewesen. Zur Herkunft merowingerzeitlicher Bischöfe in Gallien auch aus unteren Bevölkerungsschichten vgl. S. Patzold, Bischöfe im Gallien der Transformationszeit. Zum Bild solcher Bischöfe in den Quellen vgl. G. Scheibelreiter, Bischof, S. 28-35.; er lehrte und nährte Dich, bis er es später bereute. Du befolgst die Schrift nicht und glaubst nichts außer das Schlechte. Erinnere Dich an Grimoald8 Wohl Grimoald der Ältere, austrasischer Hausmeier. Nach dem Tod Sigiberts 656 ließ Grimoald dessen Sohn Dagobert scheren und schickte ihn in die Verbannung. Der Versuch, seinen eigenen Sohn Childebert (III.) († 661/2) als König einzusetzen, endete mit Grimoalds Einkerkerung in Paris und seinem Tod spätestens 662. Vgl. Liber Historiae Francorum c. 43. Zum sogenannten Staatsstreich Grimoalds vgl. zuletzt M. Becher, Staatsstreich; S. Hamann, Chronologie., solch großen Schaden hast Du ihm zugefügt, […] Christus und Gott nicht verborgen bleibt. Für die Wohltaten, die er Dir erwiesen hat, was hat er dafür […] empfangen? Seine Ehefrau9 Über Grimoalds Ehefrau ist nichts weiter bekannt. Zu den Vorwürfen vgl. Sens A 53. hattest Du bar jeden Schuldbewusstseins und ohne […] getan, denn gegen kanonische […] eine Fremde zu dieser heiligen Gemeinschaft vor […] nicht aus frommer Hingabe, sondern mit großer […]. Weshalb wir das wissen? Du schädigst10 G. J. J. Walstra, Cinq Epitres, S. 158 liest damnas als romanische Nebenform zu dom(i)nas, fasst damnas als Teil eines von sciamus abhängigen ACI auf und konjiziert für die vollständig fehlenden Teile [Arguo te], cur nos scimus damnas a te esse spoliatas „Ich beschuldige Dich, denn wir wissen, dass die Damen von Dir beraubt wurden“. sie sehr […], Du nimmst ihnen Gold und Silber und Ehren […] befreit überall in diesen Landen. Weshalb erdreistest Du Dich, ihren Schatz so sehr zu schädigen? Weil Du es hier, wie anderswo, verlangst; durch Deine Übeltaten, die nicht schicklich sind. Du liebst ein schönes Mädchen, egal aus welchem Land, nicht aus Güte und nicht aus heiliger Nächstenliebe. Du wirst nie ein Guter werden, solange Du diesem Pfad folgst. Wegen Deines Schwanzes – er ist doch lang genug, oder ist er es etwa gar nicht? – ja, wegen allem, lass Dich kastrieren11 Vgl. Matth. 19,12, wonach sich einige Männer offenbar selbst kastrierten, um dem Himmelreich näher zu kommen. Dagegen jedoch Konzil von Nicaea 325 c. 1, das die Selbstkastration für Kleriker untersagte. Für eine negative Wahrnehmung der Kastration in merowingischer Zeit vgl. Gregor von Tours, Historiarum libri X, X,15., damit Du nicht durch solche Dinge zugrunde gehst, denn Gott wird die Lüstlinge richten! Ich kann Dich auch wegen Deiner anderen Vergehen anklagen, doch Du verlangst von mir hier etwas Anderes zu sagen.
Damit Du uns in gleichem Maße [wie zuvor] in Deiner Nächstenliebe bewahrst, sollen Abschriften hiervon in viele Länder hinausgehen. Für den Herrn selbst hinterlasse ich dies hier: Falls Du in demjenigen einen Freund siehst, der Dir dies kundtut und Dir solch einen wahren Rat gibt, lies [diesen Brief] und falte [ihn] [und] nimm es Dir zu Herzen, wenn es Dir gefällt; wenn Du es aber nicht willst, wirf es in die Tonne12 V. A. Tyrrell, Merovingian Letters, S. 75 schlägt vor die Stelle als „stick it in your butt“ aufzulösen. Das englische butt als Kurzform von buttocks ist aber nicht aus dem spätantiken buttis abgeleitet.!