FREILASSUNG1 Die ingenuitas bezeichnet eigentlich den Stand der Freigeborenen und wird hier als Begriff für den Rechtsakt gebraucht, mit dem eben jener Zustand bei einem Unfreien (nachträglich) herbeigeführt wird, wörtl. also eine „Freigeborenmachung“. Seit der Spätantike konnten Freilassungen in unterschiedlichster Form stattfinden: in Kirchen, vor Amtsträgern, durch Brief, Testament oder anders mitgeteilte Willenserklärung. Entscheidend war dabei die Anwesenheit von Zeugen. Vgl. dazu A. Nitschke, Freilassung, S. 223f.
Im Namen des Herrn. [Am Tag Soundso]2 In der Handschrift ist das in der Konstruktion übliche die illo ausgefallen, das als Platzhalter für einen bestimmten Fest- oder Feiertag fungiert., das heißt im Monat Soundso am soundsovielten Tag, im Jahr Soundsoviel, unter Fürst Soundso.
Ich, in Gottes Namen der Soundso, weil ich mich mit dem menschlichen Los der Gebrechlichkeit des Menschen in künftigen Zeiten befasste, betrat ich die Kirche Saint-Étienne3 Saint-Étienne, die Kathedralkirche von Bourges. Gregor von Tours, Historiarum libri X, I,31 erwähnt bereits für das 6. Jhd. eine Stephanskirche als ecclesia prima der civitas Bourges. in der Stadt Bourges4 Bourges (Frankreich, département Cher, chef-lieu)., damit ich, wenn ich von diesem Licht geschieden sein werde, [und] meine Seele vor dem Richterstuhl Christi stehen wird, es verdiene, Vergebung zu empfangen, und [ich habe] vor dem Altar, in Anwesenheit von Priestern5 Sacerdos kann sowohl den Priester als auch den Bischof bezeichnen, betont gegenüber den Bezeichnungen als presbyter oder episcopus allerdings die kultische Funktion des Amtes. Vgl. dazu B. Thomas, Priests and bishops, insb. S. 85-88. und viri venerabiles sowie [viri] magnifici, von denen eine Liste unten angefügt und festgehalten ist […]6 In der Handschrift ist das zugehörige Prädikat des Satzes, von dem auch der Infinitiv liberare abhängt, ausgefallen. Roz ergänzt manumittere habui („habe freigelassen“). Bereits Zeu hat darauf hingewiesen, dass dieser Vorschlag mit Sicherheit aus der Interpretatio zu Codex Theodosianus IV,7 entlehnt wurde (Qui manumittendi in sacrosancta ecclesia habuerit voluntatem). und mit dem Freilassungsstab7 Die manumissio vindicta beschrieb in klassischer Zeit eine Freilassung durch den Herrn in Anwesenheit eines Liktors durch Anlegen einer vindicta (wohl eines Stabes). Im Laufe der Spätantike scheint diese Form in der Freilassung vor einem Amtsträger des Staates aufgegangen zu sein, wobei sich die Bezeichnung als manumissio vindicta noch in justinianischer Zeit findet (Digesten 40,2; Codex Justinianus VII,1). Offenbleiben muss, ob in späterer Zeit die symbolische Anlegung der vindicta noch erfolgte. Vgl. dazu M. Kaser, Das römische Privatrecht I, S. 253; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 134. meine folgendermaßen benannten Sklaven, den Soundso und den Soundso, vom heutigen Tage an vom Joch der Knechtschaft bei mir befreit, gemäß der Bestimmung der Gesetze8 Gemeint ist Codex Theodosianus 4,7,1 (Edikt Konstantins des Großen), wonach Freilassungen in Kirchen in Anwesenheit der Gemeinde und von antistes (Bischöfen/Priestern) während des Gottesdienstes zu erfolgen hatten. Die Freilassung war schriftlich festzuhalten und wurde im Westen oft durch den Diakon vorgelesen. Vgl. dazu J. Gaudemet, L’église, S. 566f.; H. Grieser, Sklaverei, S. 136-139; S. Esders, Early medieval use. Nach Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,4 führte die Freilassung in der Kirche immer zur Erlangung des römischen Bürgerrechts. Kaiser Konstantins9 Kaiser Konstantin der Große († 337). seligen Angedenkens, durch die festgelegt ist, dass alle, die unter den Augen von Bischöfen, Priestern oder auch Diakonen freigelassen werden, sich in der heiligen katholischen Kirche […]10 In der Handschrift ist das Prädikat des ut-Satzes ausgefallen.. Daher [bestimme] ich, der Soundso, bezüglich meiner vorgenannten Sklaven, deren Seelen [zu befreien] zur Befreiung meiner Seele von meinen Sünden11 Zeu schlägt animas eorum liberans pro anima mea de meis peccatis liberanda vor („ich befreie ihre Seelen, um meine Seele von meinen Sünden zu befreien“).; ja dass dieselben von diesem Tage an wirklich frei und losgelöst seien, so dass sie für sich selbst12 Das sive ist hier eine orthographische Variante von sivi = sibi (vgl. Bourges C 2). Zum Eintreten von v für b und e für i vgl. P. Stotz, Handbuch III, §28 und 215, S. 34-38 und 255-258. leben, für sich selbst handeln [und] in ihrem Recht und Geist beständig bleiben sollen, sie mögen leben, wo es ihnen beliebt, [und] gehen, wohin es ihnen beliebt, und sie sollen keinem und keiner meiner Erben und Nacherben13 Die proheredes sind indirekt Erbberechtigte, also diejenigen, die anstelle der Erben das Erbe erben, wenn die Erben das Erbe nicht erben (können). nach diesem Tage irgendeinen Dienst schulden, man darf von ihnen oder ihren Nachkommen weder den Dienst der Liten14 Beim litimonium handelt es sich um den Gehorsam und die Dienstpflicht eines Liten. Bei den Liten scheint es sich um eine heterogen zusammengesetzte Gruppe gehandelt zu haben, zu der etwa auch Handwerker, Freigelassene und Romanen gehörten. Zunächst scheinen sie eher in Richtung der servi verortet gewesen zu sein, später in Richtung der Freien. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts finden sich liti vor allem als Pächter mit festen Dienst- und Abgabepflichten. Vgl. dazu J. Balon, Lètes; G. v. Olberg, Freie, S. 153 und 162f.; A. Rio, Half-free, S. 131f. noch den Gehorsam der Freigelassenen oder eines, der unter dem Schutz eines Patrons steht, verlangen15 Freigelassene blieben seit der römischen Zeit an den freilassenden Herrn gebunden und traten in seine Patronatsgewalt, verbunden mit Schutz (defensio, auch patrocinium, tuitio oder mundeburdium) durch diesen, ein. Patronat und Schutz waren verbunden mit der Verpflichtung zu bestimmten Diensten (operae libertorum) sowie zu obsequium, der Pflicht zu Gehorsam gegenüber dem Patron. Beide entwickelten sich im frühen Mittelalter zu unauflöslichen und erblichen Verpflichtungen. Vgl. dazu A. Rio, Slavery, S. 75-79; S. Esders, Formierung, S. 23-32; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 140 Anm. 14; J. Barschdorf, Freigelassene, S. 88f. und 251; N. Carrier, Usages, S. 54-57.. Da das Römische Gesetz bekundet, dass ein jeder, der seinen Sklaven die Freiheit gewähren möchte, das auf dreierlei Weise tun kann16 Bis zur Verleihung des Bürgerrechts an alle Untertanen 212 kannte das römische Recht mit civis Romanus, Latinus und dediticius drei Formen des Bürgerrechts. Nach der Verleihung wurde diese Unterscheidung nur noch auf die Freigelassenen angewendet. Der civis Romanus zeichnete sich dabei gegenüber den anderen beiden Formen durch die Fähigkeit aus, Testamente zu errichten und selbst testamentarisch bedacht zu werden. In die Gruppe der dediticii fielen dagegen solche Freigelassene, die zuvor als Sklaven für bestimmte Verbrechen bestraft worden waren. Vgl. dazu Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,1-4; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 120-122; D. Liebs, Vier Arten. Freilassungen in der Kirche brachten demnach den Status des civis Romanus mit sich. Die Sonderstellung der Latiner und dediticii wurde im Osten von Justinian aufgehoben (Codex Justinianus 7,5,1; Institutiones 1,5,3). Auf die drei Arten von Freigelassenen wird auch in Auvergne 3 verwiesen. Paris, BN lat. 4416, fol. 50v (wohl 9. Jh.), nennt in der Glossierung zu Epitome Gai 1,1-4 abgestufte Wergelder für die drei Formen: 40 solidi für den civis Romanus (100 falls es sich um einen possessor handelte), 35 für den Latinus, 20 für den dediticius gegenüber 200 für den Franken. Vgl. dazu auch D. Liebs, Vier Arten, S. 462; D. Trump, Die Tironiana, S. 607f., werte ich, der Soundso, diese meine oben genannten Sklaven auf [und] will17 Der Verfasser benutzt hier mit vellio (bewusst?) eine fülligere und offenbar als „würdiger“ empfundene Form für volo. denselben zur Verringerung der Sünden meiner Seele, die Freiheit bestätigen, denn ich bestimme, dass dieselben Römische Bürger18 Bis zur Verleihung des Bürgerrechtes an alle Untertanen 212 kannte das römische Recht im civis Romanus, Latinus und dediticius drei Formen des Bürgerrechts. Nach der Verleihung wurde diese Unterscheidung nur noch auf die Freigelassenen angewendet. Der civis Romanus zeichnete sich dabei gegenüber den anderen beiden Formen durch die Fähigkeit aus, Testamente zu errichten und selbst testamentarisch bedacht zu werden. Vgl. dazu Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,1-4; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 120-122; D. Liebs, Vier Arten. sein sollen; und sie sollen gemäß der Autorität der Gesetze ein Testament verfassen [und] gemäß einem Testament anderen Menschen nachfolgen können und sie sollen, da ihnen die Tore offen stehen19 Vgl. zu porte aperte auch Lex Ribuaria 64 (61),1: Si quis servum suum aut libertum fecerit et civem Romanum portasque apertas conscribserit, si sine liberis dicesserit, non alium quam fiscum habeat heredem., wie Römische Bürger als Freigeborene leben. Und alle, die von ihnen gezeugt oder geboren werden, jene sollen auch so wie dieselben als Freigeborene und wirklich losgelöst leben können. Falls es aber jemanden geben sollte, sei es einer meiner Erben oder Miterben oder sonst irgendein Gegner zu irgendeinem Zeitpunkt, der es wagen sollte, gegen diese Freilassung, die ich aus meinem allervollsten Willen mit gesundem Geist20 Die Betonung des Vollbesitzes der geistigen Kräfte und des freien Willens findet sich auch in der römischen Testamentspraxis und ist notwendige Voraussetzung für deren Gültigkeit. Vgl. dazu U. Nonn, Merowingische Testamente, S. 16 und 62-64. Zur Geschäftsfähigkeit nach römischem Recht vgl. H. Honsell/T. Mayer-Maly/W. Selb, Römisches Recht, S. 96; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 120. zur Verringerung meiner Sünden niederzuschreiben [bat] und von eigener Hand bekräftigt habe und zu bekräftigen gebeten habe, durch irgendwelche Klagen oder Verleumdungen oder auf sonst irgendeine Art und Weise Schliche oder Rechtsstreitigkeiten zu betreiben, soll ihn zunächst einmal der Zorn Gottes, der himmlischen Dreieinigkeit, treffen und er soll von den Schwellen der Kirchen [und] von der Gemeinschaft der Christen ausgestoßen und exkommuniziert sein21 Seit dem 6. Jahrhundert bedeutete die Belegung mit dem Anathem den vollkommenen Ausschluss aus der Kirche, mit der Exkommunikation dagegen den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Ausgesprochen wurden sie zumeist wegen Verstößen gegen den Glauben. Vgl. dazu S. Gioanni, Anathematis vinculo, S. 101f. und 115f. Außerhalb der Formelsammlungen findet sich die Androhung von Anathem und Exkommunikation bis ins 9. Jahrhundert nur in Privaturkunden und päpstlichen Bullen, häufig in Zusammenhang mit Donationen, deren Bedeutung betont werden sollte. Eine Übernahme der Androhung in Herrscherurkunden scheint erst unter Karl dem Großen stattgefunden zu haben. Vgl. dazu F. Bougard, Jugement divin, S. 219-225. und soll zusammen mit Datan und Abiram im Abgrund der Hölle versinken22 Datan und Abiram beteiligten sich an der Revolte des Korach gegen Moses und wurden zur Strafe mit ihren Familien von der Erde verschlungen (Nm 16). Sie gehören, nach Judas Iskariot, zu den beliebtesten biblischen Figuren in frühmittelalterlichen Poenformeln (vgl. auch Marculf II,1). Größere Verbreitung scheint die Verknüpfung von Poenformeln mit biblischen Figuren seit Beginn des 10. Jahrhunderts gefunden zu haben. Vgl. dazu I. Rosé, Judas, insb. S. 65-77. und was er erstrebt, soll er nicht bekommen, sondern er muss der Partei, die er angegangen ist, und dem fiscus soundsoviele solidi Gold bezahlen23 Bei Bußzahlungen an geschädigte Personen ging in der Regel die Hälfte oder ein Drittel der Summe an den fiscus, der wiederum ein Drittel dem für die Rechtsprechung zuständigen Amtsträger überließ (so auch, wenn der fiscus selbst Empfänger der gesamten Bußzahlung war). Die Beteiligung des fiscus sollte wohl auch als Anreiz für dessen Vertreter dienen, im Falle eines Rechtsstreites zu intervenieren. Vgl. dazu J. Durliat, Finances publiques, S. 219; S. Esders, Eliten und Strafrecht, S. 268., und die vorliegende Freilassung soll für alle Zeiten fest bestehen bleiben mit einer verknüpften eidlichen Zusicherung24 Die Stipulationsformel wies in römischen Urkunden ursprünglich auf ein mündliches, an Frage- und Antwortform gebundenes Leistungsversprechen hin, mit welchem eine Partei gegenüber einer anderen eine Verpflichtung einging. Die Anbringung der Formel an den Vertrag wirkte rechtskonstituierend, auch wenn der mündliche Vollzug der Stipulation nach und nach entfiel. In fränkischer Zeit scheint das Bewusstsein für die Herkunft der Formel geschwunden, ihre Anbringung aber als Stärkung der Autorität und Sicherheit der Urkunde verstanden worden zu sein. Vgl. dazu; E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 34-46; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 373-382; D. Simon, Studien, S. 33-40; P. Classen, Fortleben und Wandel, S. 25-31. der Beständigkeit.