Formulae - Litterae - Chartae: Leseumgebung

Auvergne 5 (deu)

Verkauf seiner selbst

Selbstverkauf einer Person an einen Herrn wegen ihrer Unfähigkeit, eine aus einem Rechtsstreit entstandene Schuld zu begleichen.

LOSKAUF^{1 Aus redimere „loskaufen“. In diesem Sinne finden sich redemptio und redimere auch in der Lex Romana Curiensis 27,1,1 (Loskauf aus der Knechtschaft) und Lex Romana Curiensis 5,5, Loskauf eines Kriegsgefangenen vom Feinde, bei welchem der Ausgelöste für fünf Jahre zum Sklaven des Befreiers wurde. Zur Selbstverknechtung vgl. auch E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 281-283.}

An den Herrn Soundso.

Bei vielen ist es bekannt, dass ich vor dem heutigen Tage, nachdem die Gegenpartei gegen mich ermittelt hatte, wegen meiner Säumigkeit für meine Schuld in Gewahrsam gegeben wurde. Und ich habe kein Vermögen, von dem ich mich loskaufen könnte^{2 Das römische Recht sah in Fällen, in denen der Delinquent vermögenslos war, vor, diese durch körperliche Strafen zu ersetzen. Vgl. D. Liebs, Öffentliches und Privatstrafrecht, S. 12f. Das fränkische Recht sah bei Vergehen unterschiedlichster Art Bußzahlungen vor. Diese Zahlungen waren in ihrer Höhe so bemessen, dass sie meist nur mittels sozialer Netzwerke, die Teile der Summe übernahmen, beglichen werden konnten. Abgelöst wurden diese sog. Kompositionensysteme im 10./11. Jahrhundert durch das verstärkte Aufkommen der peinlichen Strafe. Vgl. dazu K. S. Bader, Zum Unrechtsausgleich, S. 36-38 und 61f.; J. Weitzel, Begriff und Gegenstand; G. Jerouschek, Geburt und Wiedergeburt; S. Esders, Eliten und Strafrecht, S. 272-280.}, außer meiner rechtlichen Stellung und meinem ganzen Dasein, das ich als Freier und Freigeborener^{3 Bei ienuo handelt es sich um eine hyperkorrekte Schreibweise von inienuo = ingenuo, bei der die vermeintlich ans Wort gezogene Präposition in weggelassen wurde, was völlig im Rahmen der orthographischen Variantenbreite frühmittelalterlicher Latinität liegt, dazu P. Stotz, Handbuch 3, VII § 92.6, S. 122. E. Rozière, Recueil 1, S. 75 und K. Zeumer, Formulae, S. 31 haben entsprechend emendiert.} habe und das ich wegen dieser Angelegenheit nun in Eure Knechtschaft^{4 Zum servitium und der Bedeutung von Unfreiheit im frühen Mittelalter vgl. u.a. H.-W. Goetz, Serfdom; Ch. Verlinden, Esclavage; P. Bonnassie, Slavery; H. Nehlsen, Sklavenrecht; H. Grieser, Sklaverei; A. Rio, Slavery.} beugen muss. Und die Frömmigkeit zum Herrn gebot Euch, mich wegen dieser Angelegenheit auszulösen:

Ich habe darum gebeten, Euch diese Patronatsurkunde^{5 Die Bezeichnung als carta patrociniale steht dem Rechtsinhalt der Formel, einem Selbstverkauf in die Unfreiheit, entgegen. Das patrocinium beschrieb eigentlich das Verhältnis eines Freigelassenen gegenüber seinem Freilasser, den Eintritt in dessen Patronatsgewalt verbunden mit Schutz (defensio, auch patrocinium, tuitio oder mundeburdium) durch denselben. Patronat und Schutz waren verbunden mit der Verpflichtung zu bestimmten Diensten (operae libertorum) sowie zu obsequium, der Pflicht zu Gehorsam gegenüber dem Patron. Vgl. dazu A. Rio, Slavery, S. 75-79; S. Esders, Formierung, S. 23-32; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 140 Anm. 14; J. Barschdorf, Freigelassene, S. 88f. und 251; N. Carrier, Usages, S. 54-57. D. Liebs, Sklaverei aus Not, S. 308f. sieht in diesem Umstand einen Hinweis auf eine Einschränkung der dem Käufer aus dem Selbstverkauf erwachsenden Rechte (zusammen mit dem Fehlen eines Passus zur Erlaubnis von Körperstrafen und zum Weiterverkauf).} über mein Dasein, das ich als Freigeborener habe, zu Euren Gunsten auszustellen und zu bestätigen, so dass ich fortan meine Lebenstage auch rechtmäßig in Eurer Knechtschaft^{6 Zum servitium und der Bedeutung von Unfreiheit im frühen Mittelalter vgl. u.a. H.-W. Goetz, Serfdom; Ch. Verlinden, Esclavage; P. Bonnassie, Slavery; H. Nehlsen, Sklavenrecht; H. Grieser, Sklaverei; A. Rio, Slavery.} verbringen muss. Daher verbürge^{7 Bei spondo = spondeo handelt es sich um einen häufiger zu beobachtenden Konjugationswechsel bei dem spondēre als spondĕre gelesen und entsprechend konjugiert wurde.} ich mich dafür und habe unten bestätigt, dass weder ich noch meine Erben oder sonst irgendein Gegner von diesem Tage an gegen vorliegende Patronatsurkunde vorgehen dürfen. Wer^{8 Hier quid für qui; bereits K. Zeumer, Formulae, S. 31 hat auf diese Lesart hingewiesen.} das tun wird, muss Euch und dem beteiligten^{9 Bereits der Codex Theodosianus 7,18,12 gebraucht sociare im Sinne von „(dem Seinen) hinzufügen“ wie „aneignen“ oder sogar „beschlagnahmen“: fundum ipsum, in quo praedictus postea potuerit inveniri, fisci nostri viribus sociandum. Als Folge gelangte sociare als „aneignen“ auch in die unterschiedlichen frühmittelalterlichen Rechtssammlungen: De his, qui propriam alodem vendunt vel quascumque res et ab emptore alter abstrahere voluerit et sibi sociare in patrimonium (Lex Baioariorum XVI,17); alia medietas propter admissam violentiam fisci viribus societur (Leges Burgundionum VIII,2). Zur Entwicklung der Begrifflichkeit L. Wiener, Commentary, S. 2f.} fiscus^{10 Bei Bußzahlungen an geschädigte Personen ging in der Regel die Hälfte oder ein Drittel der Summe an den fiscus, der wiederum ein Drittel dem für die Rechtsprechung zuständigen Amtsträger überließ (so auch, wenn der fiscus selbst Empfänger der gesamten Bußzahlung war). Die Beteiligung des fiscus sollte wohl auch als Anreiz für dessen Vertreter dienen, im Falle eines Rechtsstreites zu intervenieren. Vgl. dazu J. Durliat, Finances publiques, S. 219; S. Esders, Eliten und Strafrecht, S. 268.} eine Unze^{11 In römischer und merowingischer Zeit ein Zwölftel einer libra (27,88g). In späterer Zeit scheint das Verhältnis zur libra variiert zu haben. Vgl. dazu H. Witthöft, Rechnung und Zahlung, S. 14-16; H. Witthöft, Münzfuß, S. 165-167.} Gold bezahlen und, was er fordert, soll er keinesfalls erreichen können. Und wo auch immer Ihr mich werdet auffinden können, sollt Ihr mich, gleich Euren anderen Sklaven, ohne jeden Widerspruch in Eure Knechtschaft^{12 Zum servitium und der Bedeutung von Unfreiheit im frühen Mittelalter vgl. u.a. H.-W. Goetz, Serfdom; Ch. Verlinden, Esclavage; P. Bonnassie, Slavery; H. Nehlsen, Sklavenrecht; H. Grieser, Sklaverei; A. Rio, Slavery.} zurückrufen.

Zusichernd habe ich es in allen Belangen zugesichert^{13 Die Handschrift überliefert an dieser Stelle die dunkle Formulierung stibulant stibulatur in omnibus sum, die auf die Praxis der Stipulation verweist. Wie bereits K. Zeumer, Formulae, S. 31 spekuliert hat, steht das stibulatur aufgrund des nachfolgenden sum mit einiger Sicherheit für stipulatus. Bei stibulant handelt es sich um eine syntaktisch nicht passende Aktivform (3. Pers. Pl.) des Deponens stipulari, die hier vermutlich anstelle des Ablativs stibulatione steht. Schlussformeln, die auf die stipulatio Bezug nehmen und die entsprechende Ablativform verwenden ([cum] stipulatione [subnexa]…), sind breit überliefert. Die Stipulationsformel wies in römischen Urkunden ursprünglich auf ein mündliches, an Frage- und Antwortform gebundenes Leistungsversprechen hin, mit welchem eine Partei gegenüber einer anderen eine Verpflichtung einging. Die Anbringung der Formel an den Vertrag wirkte rechtskonstituierend, auch wenn der mündliche Vollzug der Stipulation nach und nach entfiel. In fränkischer Zeit scheint das Bewusstsein für die Herkunft der Formel geschwunden, ihre Anbringung aber als Stärkung der Autorität und Sicherheit der Urkunde verstanden worden zu sein. Vgl. dazu; E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 34-46; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 373-382; D. Simon, Studien, S. 33-40; P. Classen, Fortleben und Wandel, S. 25-31.}.