FREILASSUNG1 Die ingenuitas bezeichnet eigentlich den Stand der Freigeborenen und wird hier als Begriff für den Rechtsakt gebraucht, mit dem eben jener Zustand bei einem Unfreien (nachträglich) herbeigeführt wird, wörtl. also eine „Freigeborenmachung“. Seit der Spätantike konnten Freilassungen in unterschiedlichster Form stattfinden: in Kirchen, vor Amtsträgern, durch Brief, Testament oder anders mitgeteilte Willenserklärung. Entscheidend war dabei die Anwesenheit von Zeugen. Vgl. dazu A. Nitschke, Freilassung, S. 223f.
Da ja die Frömmigkeit des allerheiligsten Kaisers Ludwig2 Ludwig der Fromme (814-840)., die er gegenüber Gott hat, nicht damit aufhört, das zu ergründen und zu erforschen, was dem Willen des Herrn am meisten entspricht, wodurch freilich das Ansehen des Glaubens und die Ergebenheit zum Glauben mehr und mehr von Tag zu Tag wachsen und gedeihen möge, und [auch] das, was zum göttlichen Kult und dem heiligen Gottesdienst gehört, soll in seinen Tagen mehr an Pracht und Würde erlangen, als es zuvor gehabt haben mag, und das alles soll in den künftigen Zeiten, die bei Gott von demselben erfunden und besorgt werden, gänzlich gedeihen und zum beständigen Fortbestand soll es von seinen Nachfolgern und den Gläubigen der heiligen Kirche Gottes unverbrüchlich auf ewig bewahrt werden, stets eingedenk dessen, wie es heißt: „ Erbarmen und Wahrheit behüten einen König, und durch Gerechtigkeit3 Der Verfasser variiert hier geschickt Prov. 20,28 „Erbarmen und Wahrheit behüten einen König, und durch Milde wird sein Thron gefestigt“ (misericordia et veritas custodiunt regem et roboratur clementiathronus eius). wird sein Thron gefestigt“, und außerdem, wie es ganz wahrhaftig und scheinbar schon fast eigens über ihn heißt: „Glückselig das Land, dessen König weise4 Der Verfasser variiert hier Eccles. 10,17 „Glückselig das Land, dessen König vornehm ist“ (Beata terra, cuius rex nobilis est). ist“; für ihn kann man auch das überaus passend anführen, was der Herr über David sagte indem er sprach: „Ich habe David gefunden, nach meinem Herzen, der alle meine Wünsche ausführen soll“. Solcherart also ist dieser weise und selige König in seinen Bemühungen unablässig eifrig und folgt stets dem Willen des Herrn, und weil er begierig ist, wie es vorausgeschickt wurde, den göttlichen Gottesdienst auf alle Arten zu ehren und jene, die Gott dem Herrn über dem Altar das heilige Opfer darbringen und Leib und Blut des Herrn durch ein vermittelndes Gebet weihen, in Ehren zu haben und mit noch größerer Gnade zu schmücken, hat er beschlossen, dass Bischöfe und Äbte und alle anderen, die rechtmäßig kirchlichen Besitzungen vorangestellt sind, falls sie irgendjemanden aus ihrer familia5 Familia bezeichnete nicht nur im engeren Sinne die durch Verwandtschaft bestimmte Kernfamilie, sondern auch im weiteren Sinne alle zum Hausverband gehörenden und der Gewalt des pater familias unterworfenen Personen, ob frei oder unfrei, sowie auch das zugehörige Vermögen. Vgl. dazu M. Kaser, Das römische Privatrecht I, S. 44-46, J. Gaudemet, Tendances nouvelles; K. Bosl, Die familia, S. 408f.; A. Gestrich/J.-U. Krause/M. Mitterauer, Geschichte der Familie, S. 95-363. in den Priesterstand erheben wollen, diesen zuerst mit der Erlaubnis desselben die Freiheit gewähren sollen, und erst so sollen sie diese schließlich in angemessenster Weise zum heiligen Stand emporführen.
Daher habe ich, der Soundso6 Wohl Erzbischof Jeremias von Sens († 7.12.828)., der allerniedrigste Diener der Knechte Gottes, der Erzbischof der Kirche von Sens, gestützt auf den so bedeutenden Erlass des allerdurchlauchtigsten Kaisers Ludwig7 Derartige Erlasse sind für Erzbischof Bernowin von Besançon (821; D LdF B 6), Erzbischof Hetti von Trier (821; D LdF B 7; MGH Capit. 1, Nr. 173, S. 355f.; MGH Capit. 2, S. 539) und Erzbischof Adalramn von Salzburg erhalten (823 Juni 19; D LdF B 8; MGH Epp. 5, Nr. 8, S. 311f.). Sie wurden im Nachgang der Reichversammlung von Nimwegen 821 versandt und nehmen zur Freilassung von Unfreien vor deren Eintritt in den geistlichen Stand Bezug auf das auf der Synode von Aachen (Jahreswende 818/819) erlassene Capitulare Ecclesiasticum c. 6 (MGH Capit. N.S. IV,1, Nr. 8, S. 84: De ecclesiarum vero servis communi sententia decretum est, ut archiepiscopi per singulas provincias constituti nostram auctoritatem, suffraganei vero illorum exemplar illius penes se habeant. Et quandocumque de familia ecclesiae utilis inventus aliquis ordinandus est, in ambone ipsa auctoritas coram populo legatur). Vgl. zu diesem Kapitel S. Patzold, Presbyter, S. 182-185. Neben den entsprechenden Anweisungen enthalten die Schreiben auch Anweisungen über die Form der Freilassung: Modus autem absolutionis et manumissionis illius talis esse debet. Scribatur libellus perfectae et absolutae ingenuiatis, more quo hactenus huiusmodi libelli scribi solent, civem Romanum liberae potestatis continens: et in fine libelli, tam eorum qui in tua parrochia sunt sacerdotum, quam illorum quos dominus servi secum adduxerit, testimonia, causa, nomina describantur (D LdF B 6). Ein entsprechendes Schreiben dürfte auch den Erzbischof von Sens erreicht haben (aufgenommen als D LdF. B 9), bei dem es sich dementsprechend wohl um Jeremias (als Erzbischof erstmals belegt am 18.5.822 in D LdF 209, † 7.12.828) gehandelt haben dürfte. Zu ihm vgl. E. Duchesne, Fastes épiscopaux 1, S. 419f.; Ph. Depreux, Prosopographie, S. 275f., den man im Archiv der Bischofskirche8 Zur Entwicklung kirchlicher Archive im frühen Mittelalter vgl. A. Krah, Das Archiv als Schatzhaus; allg. auch H. Fichtenau, Archive der Karolingerzeit. aufbewahrt, Dich, unseren Bruder, den bislang der Sklavenstand als Unterworfenen in der familia dieser Kirche hielt, mit diesem Freilassungsschreiben9 Die ingenuitas bezeichnet eigentlich den Stand der Freigeborenen und wird hier als Begriff für den Rechtsakt gebraucht, mit dem eben jener Zustand bei einem Unfreien (nachträglich) herbeigeführt wird, wörtl. also eine „Freigeborenmachung“. Seit der Spätantike konnten Freilassungen in unterschiedlichster Form stattfinden: in Kirchen, vor Amtsträgern, durch Brief, Testament oder anders mitgeteilte Willenserklärung. Entscheidend war dabei die Anwesenheit von Zeugen. Vgl. dazu A. Nitschke, Freilassung, S. 223f. [freigelassen], weil man Dich gemäß des Zeugnis der Brüder ist, unter denen Du aufgezogen wurdest, als würdig bezeichnet, die Priesterwürde zu empfangen10 Zur Ausbildung und zum Wissen von Priestern in der karolingischen Zeit vgl. S. Patzold, Presbyter, S. 305-335.; ich befehle und bestimme, dass Du vor dem Altar im Angesicht der Priestern, des Klerus’ und des Volkes11 Freilassungen in Kirchen waren seit Konstantin dem Großen (†337) rechtens und hatten in Anwesenheit des Bischofs (antistes) zu erfolgen (Codex Justinianus 1,13,1 und Codex Theodosianus 4,7,1). Der Freilassungsakt fand dabei im Kirchengebäude während des Gottesdienstes in Anwesenheit der Gemeinde statt. Die Freilassung war schriftlich festzuhalten und wurde im Westen oft durch den Diakon vorgelesen. Vgl. dazu Leges Burgundionum 3,1; Lex Ribuaria 61,1; J. Gaudemet, L’église, S. 566f.; H. Grieser, Sklaverei, S. 136-139; S. Esders, Early medieval use. Nach Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,4 führte die Freilassung in der Kirche immer zur Erlangung des römischen Bürgerrechts., das anwesend ist, vom heutigen Tage an und sodann von jeglichem menschlichen Joch der Knechtschaft befreit bist und man Dich einen römischen Bürger12 Bis zur Verleihung des Bürgerrechts an alle Untertanen 212 kannte das römische Recht mit civis Romanus, Latinus und dediticius drei Formen des Bürgerrechts. Nach der Verleihung wurde diese Unterscheidung nur noch auf die Freigelassenen angewendet. Der civis Romanus zeichnete sich dabei gegenüber den anderen beiden Formen durch die Fähigkeit aus, Testamente zu errichten und selbst testamentarisch bedacht zu werden. Vgl. dazu Breviarium Alarici, Epitome Gai 1,1-4; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 120-122; D. Liebs, Vier Arten. nennen soll; so dass Du keinem Menschen gegenüber infolge des Sklavenstandes zu irgendeinem Dienst oder Gehorsam verpflichtet bist und nicht einmal eine Gabe für die Freiheit erbringen musst13 Freigelassene blieben seit der römischen Zeit an den freilassenden Herrn gebunden und traten in seine Patronatsgewalt ein. Damit einher ging die Verpflichtung zu bestimmten Diensten (operae libertorum) sowie zu obsequium, der Pflicht zu Gehorsam gegenüber dem Patron. Beide entwickelten sich im frühen Mittelalter zu unauflöslichen und erblichen Verpflichtungen. Vgl. dazu A. Rio, Slavery, S. 75-79; S. Esders, Formierung, S. 23-32; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 140 Anm. 14; J. Barschdorf, Freigelassene, S. 88f. und 251; N. Carrier, Usages, S. 54-57., weder mir noch [meinen] Nachfolgern oder Beauftragten, wer auch immer dieser Kirche vorstehen wird, [und] niemandem, der mit richterlicher Gewalt ausgestattet ist, denn Du sollst die Erlaubnis und die Ermächtigung dazu haben, Gott allein frei zu dienen und ihm Deine Tage und Dein Leben zu widmen, auf dass Du derselben Kirche dienlich seist zur Zierde und zum Nutzen für das Volk, das durch das kostbare Blut Christi erlöst ist; daher sollst Du dieses [Volk] nach Deinem Ermessen durch Ermahnungen unterweisen, ihm mit Gebeten beistehen, es durch [gute] Beispiele formen [und] es mit der Weihe von Leib und Blut des Herrn zu erquicken, um dessen Verehrung willen Du in diese Würde nachgefolgt bist, damit Du das Volk, das eigens Dir als Priester anvertraut wurde, durch diese göttlichen Dinge lehrst, dem Joch teuflischer Herrschaft zu entrinnen, genauso wie Du weißt, dass Du durch diese Freilassung von der menschlichen Sklaverei bereit bist.
Eingedenk der kanonischen Vorschriften gefiel es uns auch dies hier hinzuzufügen: Dass Du, falls Du Dir künftig durch einen Titel auf Deinen Namen Landbesitz oder Unfreie verschafft haben solltest, das beachten musst, was man bekanntlich in demselben Erlass findet, damit Du nicht gezwungen sein wirst, nach kanonischem Urteil den Priestergrad aufzugeben, falls Du womöglich, was fern sei, von Deinem eigentlichen Zwecke abweichen solltest14 Capitulare Ecclesiasticum c. 6 (MGH Capit. N.S. IV,1, Nr. 8, S. 84), auf das auch der angesprochene Erlass Ludwigs des Frommen zurückgeht: ceterum si post ordinationem aliquid adquisiverit, illud observetur quod in canonibus de consecrandis nihil habentibus constitutum est. Die Stelle dürfte auf Canones in causa Apiarii c. 32 (= Konzil von Karthago ad a. 419; CCSL 149, ed. C. Munier, S. 144) verweisen. Das Kapitel findet sich auch in der Hispana und den falschen Dekretalen der pseudoisidorischen Fälschungen (https://www.pseudoisidor.mgh.de/html/083.htm) und fand in karolingischer Zeit Eingang in bischöfliche Handbücher (vgl. B. Waagmeester, Bishops, Priests and Ecclesiastical Discipline, S. 338): Placuit ut episcopi, presbyteri, diaconi uel quicumque clerici, qui nihil habentes ordinantur, et tempore episcopatus uel clericatus sui agros uel quaecumque praedia nomini suo comparant, tanquam rerum dominicarum inuasionis crimine teneantur, nisi admoniti in ecclesiam eadem ipsa contulerint. Si autem ipsis proprie aliquid liberalitate alicuius uel successione cognationis uenerit, faciant inde quod eorum proposito congruit; quod si a suo proposito retrorsum exorbitauerint honore ecclesiastico indigni, tanquam reprobi iudicentur. Die Capitula Ecclesiastica (810-813?) Karls des Großen c. 11 (MGH Capit. 1, Nr. 81, S. 178) legen fest, dass ein Priester nach seiner Weihe erworbene Güter der Kirche zu hinterlassen hat. Zum Problem von Privateigentum von Priestern vgl. H. Dockter, Klerikerkritik, S. 102-129; S. Patzold, Presbyter, S. 411-416..
Ich habe diese Freilassung mit eigener Hand unterzeichnet und habe die diejenigen darum gebeten, die [unten] unterzeichnet haben.