Formulae - Litterae - Chartae: Leseumgebung

Sens A 4 (deu)

Verkauf seiner selbst

Selbstverkauf (obnoxatio) einer Person an einen Herrn.

UNTERWERFUNG

An den Herrn [und] Bruder^{1 Die Anrede fratri wird hier als Anrede im christlichen Sinne (d.h. „Bruder in Christo“) gebraucht.} Soundso, [ich,] der Soundso.

Es ist allgemein bekannt, dass mich schwerwiegende Not und schlimmste Bedrängnis^{2 Die Handschrift überliefert das Wort [?]natas, bei dem der erste Buchstabe offenbar radiert wurde. Die Fassung der Formel bei Lindenbrog hat die Form anatas, was nach Du Cange I, S. 239 aus dem griechischen ἀνία „Plage“, „Beschwernis“ abgeleitet wurde. Die Lesarten natas = natae „Töchter“ oder anatas = anas „Ente“ erscheinen wenig plausibel.} bedrückten, und ich kaum etwas habe, wovon ich leben und mich kleiden kann. Deshalb habt Ihr auf meine Bitte hin diese nicht verweigert, weshalb Ihr mir in meiner höchsten Not Silber und geprägtes Geld^{3 Die genaue Bedeutung des in den Formeln von Sens häufig verwendeten amactum ist unbekannt. Vermutlich handelte es sich dabei um nicht aus Silber geprägte Gebrauchsmünzen. Vgl. dazu G. Baader, amactum, MLW 1, Sp. 532; A. Rovelli, From the Fall of Rome, S. 84f.} von Euch im Wert von soundsovielen solidi in meine Hand gabt; und ich besitze kaum etwas, wovon ich Dir eben diese Deine solidi zurückzahlen kann. Deshalb ließ ich für Dich ein Unterwerfungsschreiben über meinen Stand als Freigeborener ausfertigen und bestätigen, damit Du vom heutigen Tage an die uneingeschränkte und allerbeständigste Macht dazu hast, was auch immer Du bezüglich der Unfreien tun kannst, die Dir seit ihrer Geburt gehören, auch mit mir zu tun; sei es verkaufen oder tauschen oder bestrafen^{4 Der Selbstverkauf war im römischen Recht zwar nominell geächtet, in der Praxis aber weit verbreitet. Erst unter Justinian wurde er offiziell anerkannt. Vgl. dazu D. Liebs, Sklaverei aus Not; A. Rio, Self-sale.}. Falls aber irgendjemand – und ich glaube nicht, dass das geschehen wird –, sei es ich selbst oder irgendeiner meiner Erben oder irgendein Gegner, es wagen sollte, gegen diese Unterwerfung hier vorzugehe, muss er Dir zusammen mit dem beteiligten fiscus zur Strafe soundsoviele Unzen Gold bezahlen^{5 Bei Bußzahlungen an geschädigte Personen ging in der Regel die Hälfte oder ein Drittel der Summe an den fiscus, der wiederum ein Drittel dem für die Rechtsprechung zuständigen Amtsträger überließ (so auch, wenn der fiscus selbst Empfänger der gesamten Bußzahlung war). Die Beteiligung des fiscus sollte wohl auch als Anreiz für dessen Vertreter dienen, im Falle eines Rechtsstreites zu intervenieren. Vgl. dazu J. Durliat, Finances publiques, S. 219; S. Esders, Eliten und Strafrecht, S. 268.}; und die vorliegende Unterwerfung soll für alle Zeiten festen Bestand haben.

Samt hinzugefügter eidlicher Zusicherung^{6 Die Stipulationsformel wies in römischen Urkunden ursprünglich auf ein mündliches, an Frage- und Antwortform gebundenes Leistungsversprechen hin, mit welchem eine Partei gegenüber einer anderen eine Verpflichtung einging. Die Anbringung der Formel an den Vertrag wirkte rechtskonstituierend, auch wenn der mündliche Vollzug der Stipulation nach und nach entfiel. In fränkischer Zeit scheint das Bewusstsein für die Herkunft der Formel geschwunden, ihre Anbringung aber als Stärkung der Autorität und Sicherheit der Urkunde verstanden worden zu sein. Vgl. dazu; E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 34-46; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 373-382; D. Simon, Studien, S. 33-40; P. Classen, Fortleben und Wandel, S. 25-31.}.

Gegeben zu Soundso.