I EIN PRIVILEG
An den heiligen Herrn und ehrwürdigen Bruder in Christo Abt Soundso und die ganze Gemeinschaft des Klosters Soundso, das zu Ehren der Seligen Soundso und Soundso1 Die Form beatorum illorum ist plural. Aus der Formel geht nicht hervor, wievielen Seligen genau das Kloster geweiht ist. Bis weit ins Hochmittelalter hinein ist beatus (selig) das stärkere Attribut gegenüber sanctus (heilig), nahezu alles im kirchlichen Umfeld kann sanctus sein. Der Zustand der Seligkeit bleibt dagegen nur besonderen Individuen vorbehalten. Die systematische Trennung von Seligen und Heiligen bildete sich erst im 13. Jahrhundert aus. Zur Begrifflichkeit in Antike und Frühmittelalter H. Delehaye, Sanctus, S. 24-73 und A. Angenendt, Heilige, S. 24-28; zur Systematisierung A. Angenendt, Heilige, S. 182. von Abt Soundso im Gau Soundso errichtet wurde, Bischof Soundso.
Die Zuneigung zu Eurer Liebe drängt uns mit dem entflammenden Strahl göttlicher Eingebung dazu, zugunsten eures Friedens für jene Dinge zu sorgen, die uns zum Lohn gereichen mögen, und sie auf rechtem Pfad mit einer unerschütterlichen Grenze zu befestigen. Diese Dinge sollen sodann – das gebe Gott – ewige Gültigkeit erlangen, denn man erhofft sich vom Herrn keine geringere künftige Belohnung für jenen, der über den Zeitenlauf hinweg2 In dieser Bedeutung erscheinen die succidua tempora auch in der Vorrede zu den Beschlüssen des Konzils von Saint-Jean-de Losne (Concillium Latunense) zwischen 673 und 675: nobis quoque stabilire atque conseruare in omnibus firma stabilitate per succidua tempora conueniat, Clercq (Ed.) 1963 – Concilia Galliae, S. 315. ein Leben der inneren Einkehr führt, als für jenen, der gerade jetzt den Armen Gaben darbringt. Und niemand soll glauben, uns verleumderisch hierin neue Lieder3 Die nova carmina sind an dieser Stelle abwertend gemeint, wie der nachfolgende Verweis auf die Tradition deutlich macht. Der Bischof verwehrt sich dagegen “neue Lieder zu singen”, also etwas unerhörtes und ungewöhnliches zu tun, indem er dem Kloster die Immunität verleiht. Es ist der Gedanke von Legitimation durch Tradition. Jamien Kreiner vermutet in nova carmina decernere zudem eine Anspielung auf Vergil, Ekloge 3,86 (Pollio et ipse facit nova carmina) und Ps 118,54 (carmina erant mihi praecepta tua in domo peregrinationis meae); dazu J. Kreiner, The social life, S. 45. Ein Anklang an den Beginn von Ps 97,1 Cantate Domino canticum novum, “Singt dem Herrn ein neues Lied” ist zwar nicht von der Hand zu weisen, entspricht aber nicht der negativen Wertung von “neu”, die uns hier begegnet. zuzuschreiben, solange von alters her die Klöster der Heiligen von Lérins, Agaune, Luxeuil4 Die Klöster Notre-Dame von Lérins (gelegen auf der Insel Saint-Honorat vor der südfranzösischen Küste, Commune Cannes, Département Alpes-Maritimes), Saint-Maurice von Agaune (Kanton Wallis) und Saint-Pierre und Saint-Paul von Luxeuil (Luxeuil-le-Bains, Département Haute-Saône), drei der wirkmächtigsten Orte des frühen gallischen Mönchtums, stellvertretend für unterschiedliche, zum Teil ineinander übergehende Strömungen. Nennungen von Lérins, Agaune und Luxeuil, wiederholt auch mit Saint-Marcel von Chalon-sur-Saône, finden sich häufig in Klosterprivilegien des 6., 7. und 8. Jahrhunderts (vgl. dazu F. Prinz, Frühes Mönchtum, S. 85-87). Entsprechende Freiheitsprivilegien für diese Klöster sind nicht überliefert. Ihre Nennung bei Marculf in diesem Kontext könnte auch auf eine Umdeutung älteren Materials im neuen politischen Kontext des 7. Jahrhunderts zurückzuführen sein (vgl. dazu B. Rosenwein, Negotiating Space, S. 66-70, entgegen E. Ewig, Beobachtungen zu den Klosterprivilegien)., ja überhaupt unzählige (Klöster) mehr über das ganze Frankenreich hinweg, nach bischöflichem Rat auf königlichen Erlass hin unter dem Vorrecht der Freiheit5 Seit der Spätantike unterstanden Klöster gemeinhin der bischöflichen Aufsicht (vgl. B. Rosenwein, Negotiating Space, S. 32-35). Die seit dem 5. Jahrhundert belegten Freiheitsprivilegien (libertatis privilegium) dienten wiederum der Herauslösung eines Klosters aus der bischöflichen potestas (vgl. zu diesen Privilegien E. Ewig, Beobachtungen zu den Klosterprivilegien, insb. S. 411-418). Typische Elemente solcher Freiheitsprivilegien waren die Garantie des klösterlichen Besitzes, der freien Abtswahl, des Ausschlusses der bischöflichen potestas über dem Kloster zugehörige Personen und Sachen sowie die Festlegung der correctio nach der Regel. Ewig unterscheidet darüber hinaus zwischen der “großen Freiheit”, der vollständigen Aufgabe der bischöflichen Vollgewalt über das Kloster, und der “kleinen Freiheit”, bei der dem Diözesanbischof das Recht zu bestimmten Weihehandlungen prinzipiell vorbehalten blieb. stehen. Aber aus Ehrfurcht vor den Heiligen und all meinen Brüdern werde ich durch das Erfüllen von Anordnungen (und) das Einhalten von Vorschriften meinen Gehorsam offenbar machen. Was Ihr und eure Nachfolger, vom Heiligen Geist geleitet, in der Tat fürderhin beachten sollt (und) was überdies der Bischof der heiligen Kirche Soundso erfüllen muss, haben wir diesem Blatt anvertraut, indem wir es ihm eingegeben haben.
Das ist [folgendes]: dass einer aus eurer Gemeinschaft, der in eurem Kloster in dem Maße heilige Pflichten ausführen muss, wie der Abt es zusammen mit dem ganzen Konvent verlangt, von uns oder von unseren Nachfolgern Weihegrade6 Nach den spätantiken gallischen statuta ecclesiae antiqua gibt es neun Weihegrade für Männer und vier weitere für Frauen (§§90‑102). Isidor von Sevilla († 636) kennt ebenfalls die neun Grade ostiarius, psalmista, lector, exorcista, acolythus, subdiaconus, diaconus, presbyter und episcopus (Isidor, Etymologiae VII,12,2f.). Zu den Weihegraden der statuta ecclesiae antiqua ausführlich S. Meckel-Pfannkuche, Rechtsstellung, S. 32-49. bekommen soll; man soll künftig keine Belohnung für die Würde eben dieser [Grade] empfangen. Der vorgenannte Bischof soll den Altar in demselben Kloster segnen und ihnen, falls sie das fordern möchten, aus Hochachtung für den Ort jedes Jahr unentgeltlich heiliges Salböl überlassen. Und wenn nach göttlicher Fügung der Abt desselben Klosters zum Herrn eingeht, soll derselbe Bischof der besagten Stadt7 Die Stadt des Bischofs war vermutlich oben im Text (sanctae ille aecclesiae episcopus) gemeinsam mit seiner Kirche zu nennen. denjenigen ohne Belohnung zum Abt befördern, den die ganze Mönchsgemeinschaft Soundso einstimmig aus aus den eigenen Reihen gewählt hat, der mit der Regel8 Bis Ende des 7. Jahrhunderts und dem Aufstieg der regula Benedicti zur dominierenden Klosterregel war das klösterliche Leben in Gallien von einer Vielfalt unterschiedlicher, und oft individuell ausgestalteter Klosterregeln bestimmt. Vgl. dazu F. Prinz, Frühes Mönchtum, S. 87 und 263-293. bestens erfahren und aufgrund der Verdienste seines Lebens geeignet ist. Weder wir, noch unsere Nachfolgerbischöfe, noch die Archidiakone noch die übrigen Inhaber von Weihegewalt oder irgendjemand der vorgenannten Stadt soll sich ferner anmaßen, irgendeine Amtsgewalt über dasselbe Kloster innezuhaben, [über] dessen Besitz oder Personen, die zu weihen sind, die Landgüter, die man bislang ebenda übertragen hat oder die fürderhin als königliche Gabe oder als Gabe von Privatleuten übertragen werden, und das übrige Hab und Gut des Klosters oder sich erdreisten, darauf zu hoffen, von demselben Kloster, so wie von Pfarreien oder anderen Klöstern irgendetwas aufgrund einer Abgabe zu erhalten, oder es wagen, etwas von dem wegzunehmen, was Gott von ehrfürchtigen Menschen übertragen oder auf dem Altar entgegengebracht wurde, oder was in Form von heiligen Büchern oder irgendwelchen Bildnissen als Schmuck zur Gottesverehrung gehört9 Eingeschlossen sind hier wohl auch liturgische Gefäße und Reliquare. Vgl. dazu M. Weidemann, Kulturgeschichte II, S. 169-172 und 215-218., die Dinge die bislang gespendet wurden oder fürderhin gespendet werden. Und sofern er nicht von der Gemeinschaft Soundso oder vom Abt für ein nutzbringendes Gebet10 Gemeint sind hier wohl Gebete, Segen und Weihen oder Gottesdienste, die einen Priester erfordern. Die Klausur der Mönche ist auch für den Bischof und seine Vertreter einzuhalten und darf nur auf Aufforderung hin für eine notwendige Handlung verletzt werden. A. Uddholm, Marculfi Formularium, S. 23 und A. Rio, The formularies, S. 131 fassen die Junktur enger auf und übersetzen pro oratione lucranda sehr frei mit „Messefeier“ („célébrer l’office“/“to celebrate mass“). eingeladen wird, sei es keinem der Unsrigen gestattet, die Abgeschiedenheit11 Die secreta sind hier als „Abgeschiedenheit“ zu verstehen und bezeichnet den abgetrennten Bereich des Klosters, der allein den Mönchen vorbehalten ist. In diesem Zusammenhang ist auch an claustrum, Klausur, zu denken, das sowohl die Abschließung von der Welt entsprechend dem monastischen Ideal bezeichnet als auch den Gesamtkomplex des Klosters (sowie seit dem 9. Jahrhundert den Kreuzgang). Vgl. J. Dubois, Klausur. des Klosters aufzusuchen oder die Umfriedung12 Die saepta bezeichnen zunächst jede Form von Umzäunungen oder Einhegungen insbesondere aber die Schafhürden. Die Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit einem Kloster ist kein Zufall. Die Klausur des Klosters ist nach christlichem Verständnis eine Hürde in dem der Abt als Hirte über seine Schafe wacht. des Bezirks zu betreten13 Das hier aufgeführte Introitusverbot stellt eine neue Entwicklung dar. Zutritt zum Kloster war bereits seit Gregor dem Großen für Kleriker in den meisten Fällen von der Zustimmung des Abtes abhängig. Das bischöfliche Visitationsrecht davon allerdings nicht betroffen. Lediglich Kosten durften dem Kloster dadurch nicht entstehen. Vgl. E. Ewig, Beobachtungen zu den Klosterprivilegien, S. 418f. Die zunehmende Abschottung des Klosters als sakraler Raum scheint auf den Columbanischen Einfluss zurückzuführen sein. Vgl. B. Rosenwein, Negotiating Space, S. 66-73.. Und falls der Bischof von ihnen für ein nutzbringendes Gebet angefordert wurde und er zu ihrem Nutzen dorthin gekommen ist, soll er, nachdem das Gebet feierlich vollzogen und das göttliche Geheimnis begangen wurde und man einen einfachen und besonnenen Segen empfangen hat14 Der Autor hat hier die sich verändernden sprachlichen Gewohnheiten geschickt genutzt und die beiden aufeinanderfolgenden Ablativus absolutus Konstruktionen durch unterschiedliche Schreibvarianten voneinander getrennt. Die Austauschbarkeit von Abl. und Akk. in der Schreibweise begegnet uns in der Formel immer wieder. Im Falle von caelebrata ac peractu diuino mysterio, simplicem ac sobriam benedicitionem perceptam ist der Vollzug der Messe gemeint, in der durch das Wort des Priesters Leib und Blut Christi gegenwärtig werden. Zur liturgischen Gestaltung der Messe und der Transformation des Ordo romanus in der fränkischen Welt vgl. M. Weidemann, Kulturgeschichte II, S. 218-223 und I. Gazzola, Comment célébrer la messe?, darauf bedacht sein, zurückzukehren ohne irgendeine Gabe zu verlangen, auf dass die Mönche, die „Alleinige“15 Der solitarius ist die wörtliche Wiedergabe des griechischen monachus. Im Unterschied zum echten Einsiedler (eremita) leben die beschriebenen Mönche zwar in einer Gemeinschaft, bleiben aber trotzdem weitgehend für sich; sie sind gemeinsam einsam. Solche anachoretisch-zönobitischen Mischformen dürften typisch für die vorbenediktinische Klosterlandschaft Galliens gewesen sein. Zu den unterschiedlichen Strömungen im gallisch/fränkischen Mönchtum P. Geary, Before France and Germany, S. 139-147 und F. Prinz, Frühes Mönchtum, S. 88-101. heißen, aufgrund vollkommenen Friedens unter Gottes Führung allzeit frohlocken können und vollständig in der Lage sind, Gott um den Bestand der Kirche und das Heil des Königs und des Vaterlands anzuflehen, während sie nach der heiligen Regel leben und dem Leben der seligen Väter16 Für den gallischen Raum lässt sich die Bedeutung der „(Mönchs-)Väter“ als monastische Vorbilder auch an der Existenz eines ganzen Liber vitae patrum belegen. Gregor von Tours († 594) verfasste eine Sammlung von Lebensbeschreibungen 20 vorbildlicher gallischer Heiliger, die breit überliefert und rezipiert wurde; L. Piétri, La vie des pères. nacheifern. Und wenn dieselben Mönche irgendwie lau17 Der Vorwurf der Lauheit stammt aus Apc 3,15f.: utinam frigidus esses, aut calidus, sed quia tepidus es, et nec frigidus, nec calidus, incipiam te evomere ex ore me „O dass du kalt oder warm wärest! So aber, weil du lau bist, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde!“ in ihrem Glaubenseifer sein sollten oder vielleicht übel handeln, sollen sie gemäß ihrer Regel von ihrem Abt, so er es vermag, auf den rechten Weg gebracht werden; andernfalls muss der Bischof derselben Stadt sie züchtigen18 Der Vorbehalt des Bischofs, bei Unfähigkeit des Abtes ins Klosterleben einzugreifen, stellt gegenüber ähnlichen Privilegien eine Ausnahme dar. Vgl. E. Ewig, Marculfs Formular..
Weil man der kirchlichen Autorität (auctoritas) nichts entreißt, was auch immer den Glaubengenossen für den Frieden der Seelenruhe zusteht, soll, falls – was Gott verhüte – einer von uns, der von Verschlagenheit bewegt oder von Begierde fehlgeleitet ist, es wagen sollte, die Dinge, die weiter oben aufgezählt sind, unbedachten Sinns zu verletzen, derjenige von göttlicher Rache niedergestreckt werden, wegen seinem Frevel dem Anathem19 Seit dem 6. Jahrhundert bedeutete die Belegung mit dem Anathem den vollkommenen Ausschluss aus der Kirche (gegenüber der Exkommunikation, dem Ausschluss aus der Gemeinschaft). Ausgesprochen wurde es zumeist wegen Verstößen gegen den Glauben. Vgl. dazu S. Gioanni, Anathematis vinculo, S. 101f. und 115f. In Urkunden findet sich Androhung mit Anathem und Exkommunikation, außerhalb der Formelsammlungen, bis ins 9. Jahrhundert nur in Privaturkunden und päpstlichen Bullen, häufig in Zusammenhang mit Donationen deren Bedeutung betont werden sollte. Eine Übernahme der Androhung in Herrscherurkunden scheint erst unter Karl dem Großen stattgefunden zu haben. Vgl. dazu F. Bougard, Jugement divin, S. 219-225. unterliegen und sich für drei Jahre als von der Gemeinschaft mit allen Brüdern entfremdet betrachten. Nichtsdestoweniger soll dieses Privileg auf ewig unversehrt bleiben.
Diese unsere Verordnung mit Unterschriften von unserer Hand zu bekräftigen, haben sowohl Wir als auch unsere Brüder die Herren Bischöfe entschieden, auf dass sie mit fester Rechtskraft bestehen bleibe.
Da und da geschehen an dem und dem Tag, im Jahre Soundso.