PREKARIE1 Das frühmittelalterliche precarium findet sich in stark zunehmendem Maße seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert in den Quellen. Mit dem precarium wurde Grundbesitz übertragen, wobei das Eigentum am übertragenen Land beim Geber verblieb, während dem Empfänger das Recht zum Nießbrauch eingeräumt wurde. Verbunden war diese Übertragung in der Regel mit der Verpflichtung zu Abgaben und Diensten, deren genaue Bedingungen flexibel ausgehandelt werden konnten. Das in diesem Zusammenhang vom Leihenehmer ausgestellte Dokument wurde zunächst als precaria bezeichnet, das vom Leihegeber ausgestellte als praestaria. Im Laufe des 8. Jahrhunderts begannen beide Dokumente zugunsten eines einzigen zusammenzufallen. Vgl. dazu E. Levy, Vom römischen Precarium, insb. S. 3-5; L. Morelle, Les actes de précaire, S. 610-617; I. Wood, Teutsind, S. 45-47. ÜBER EIGENTUM2 P3 überliefert die unklare Kürzung PL̅e. Die Güter, die nach der Übertragung zurück geliehen werden, stammen aus rechtmäßigem Eigentum, was die Auflösung peculiare nahelegt. Die Verbindung aus einem Substantiv auf -a und einem Adjektiv in der Ablativform auf -e (Neutrum) findet sich in den Formelsammlungen immer wieder als Incipit für Formeln, etwa bei Marculf I,28, der carta audientale, die unter diesem Titel auch in der Sammlung von P3 unter der Nummer 73 (fol.137ra) zu finden ist. K. Zeumer, Formulae, S. 490 entschied sich, die ungewisse Kürzung auszulassen und ediert nur precaria als Titel. F. Lindenbrog, Codex legum, S. 1228 führt das Stück unter PRECARIA DE IPSA VILLA DVM VIVIT.
An den ehrwürdigen Herrn Vater in Christo, den Herrn Abt Soundso des Klosters Soundso sowie die ganze Gemeinschaft der Mönche im Kloster Soundso, das im Gau Soundso zu Ehren der Heiligen Soundso und Soundso3 Die Form illorum ist Plural; es ist nicht klar, um wieviele Heilige es sich handelt. errichtet wurde, die Gott eben dort dienen, ich nämlich der Soundso.
Da es nicht unbekannt ist, sondern vielmehr unter vielen bekannt, dass ich Besitzungen von mir aus meinem eigenen rechtmäßigen Eigentum, die im Gau Soundso und Soundso4 Die Form illo ist Singular; es scheint sich also tatsächlich nur um zwei Gaue gehandelt zu haben., in den Gemarkungen5 Bei der condita handelte es sich wohl um eine Untereinheit des pagus, ähnlich der vicaria, die neben dem territorialen Bezug auf Einwohner desselben rekurrieren konnte. Verweise auf die condita finden sich seit dem frühen 8. Jahrhundert vor allem im unteren Loiretal und der bretonischen Mark. Vgl. dazu J.-P. Brunterc’h, Le duché du Maine, S. 83f.; J. F. Boyer, Pouvoirs et territoires, S. 370. und Grenzen von Soundso und Soundso6 Die Form illas ist Plural; es ist nicht klar, um wieviele Gebiete es geht. liegen, [nämlich] die Landgüter und Orte, die Soundso und Soundso sowie Soundso und Soundso7 Die Formen illas und illa sind beide Plural, es ist nicht klar, um wieviele villae und loca es jeweils geht. heißen, mit allen Erträgen und in ihrer vollen Ausdehnung, in aller Gänze sowie samt allem, was dazu gehört und mit den Gebäuden und allem oben dargelegten sowie den Sklaven und Sklavinnen, den Landpächter, den freigelassenen Männern und Frauen8 Die Dopplung macht deutlich, dass explizit Freigelassenen jedes Geschlechts gemeint sind. Die Akkusativform wurde hier bewusst in Abgrenzung der nicht zu unterscheidenden Ablativform gesetzt (die Fassung von Ko2 verwendet die beiden Akkusative libertos und libertas). Die klassische Form der Kenntlichmachung wäre dagegen die Bildung libertabus, um die libertae explizit neben den liberti zu erwähnen. Freigelassene verblieben nach ihrer Freilassung zumeist in der Patronatsgewalt ihres Freilassers. Dessen Schutz war häufig mit der Verpflichtung zu exakt festgelegten Diensten und Abgaben verbunden. Im Laufe des Frühmittelalters wurde libertus zunehmend zu einem vererbbaren Stand, während sich zugleich die Beziehung zwischen Freigelassenem und Freilasser allmählich entpersonalisierte. Seit dem 8. Jahrhundert scheinen die Grenzen zwischen liberti und servi, aber auch zwischen liberti und ingenui durch die Fixierung der Lasten zunehmend verschwommen zu sein. Vgl. dazu J.-P. Devroey, Puissants, S. 270; A. Rio, Slavery, S. 75-79; H. Grieser, Sklaverei, S. 150-153; S. Esders, Formierung, S. 23 und 30-33; H.-W. Goetz, Serfdom, S. 34; W. Rösener, Vom Sklaven zum Bauern, S. 85-87. mit allem, deren Vermögen und den Einkünften durch sie, vom heutigen Tage an durch ein Schreiben von mir dem schon genannte Kloster zugesichert habe. Und Ihr habt alles oben Erwähnte und genau so viel, wie in demselben Schreiben verzeichnet ist, durch meine Übertragung für das schon genannte Kloster in Euer rechtmäßiges Vermögen und Eure Gewalt aufgenommen. Doch es war meine Bitte und mein Ersuchen, und Eure Gutwilligkeit gewährte es, dass ich dieselben Besitzungen, solange ich lebe, durch ein von Euch und eben jenem Eurem Kloster gewährten beneficium9 Im Wortsinne „Wohltat“, „Gunstbezeugung“ oder „Gabe“ wurde beneficium seit dem 7. Jahrhundert zunehmend auch in Verbindung mit der prekariatischen Landleihe gebraucht und entwickelte sich in der Folge zum terminus technicus für die zeitlich befristete Landleihe zum Nießbrauch. Vgl. dazu É. Lesne, Les diverses acceptions, S. 5; B. Kasten, Beneficium, S. 253f.; P. Fouracre, The use of the term beneficium, S. 62 und 70f. daselbst allein nach Art des Nießbrauchs10 Im klassischen römischen Recht bezeichnete ususfructus ein persönliches Nutzungsrecht, das weder übertragen noch vererbt werden konnte. In der Spätantike wurde ususfructus zum Terminus für jede Art eingeschränkten Eigentums (entgegen dem Volleigentum, einem dauerhaften und übertragbaren Recht). Vgl. dazu H. Honsell/T. Mayer-Maly/W. Selb, Römisches Recht, S. 184-191; M. Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 303; J.-F. Lemarignier, Les actes de droit privé, S. 44. haben und besitzen soll, dies freilich derart, dass ich nicht die Macht haben soll, irgendjemandem etwas zu übertragen, um etwas davon zu verringern, zu entfernen oder zu entfremden11 Die Fassung der Sammlung aus Ko2, überliefert zusätzlich noch die Bestimmung, dass der Aussteller nicht Macht haben soll es „zu verschlechtern“ (aut deterius tractandi)..
Denn falls es jemanden geben sollte – was fern sei – sei es ich selbst oder einer meiner Erben oder sonst irgendjemand, der sich bei irgendeiner Feindseligkeit oder eine Schädigung oder Bosheit, die zutage treten mögen, entweder erhoben hat oder solches beabsichtigte, muss er zunächst einmal diese Besitzungen herausgeben und Euer Kloster soll sie zur Gänze zurückbekommen und darüber hinaus weitere soundsoviele weitere Besitzungen an dasselbe Kloster übertragen und erstatten. Auch habt Ihr beschlossen, dass ich jedes Jahr für dieselben Besitzungen zum Fest des heiligen Soundso Silber – oder sonst etwas Beliebiges12 Die im Manuskript nachfolgende Prekarieformel verweist hier explizit auf Wachs als Alternative zu Silber für den jährlich zu entrichtenden Zins. Seit dem 8. Jahrhundert scheinen Klöster und Kirchen bestimmten Pächtern innerhalb ihrer Grundherrschaften speziell für die Beleuchtung der Kirchen vorgesehene Abgaben auferlegt zu haben. Aus diesen bildeten sich in der Folge spezielle Personengruppen (cerocensuales, cerarii, luminarii) innerhalb der grundherrschaftlichen familia heraus. Die Abgaben waren zunächst in Wachs oder Kerzen zu erbringen, später zum Teil auch in Form von Geldzahlungen. Vgl. dazu R. Wulf, Wachszins, Sp. 1074-1076; P. Fouracre, Eternal light, S. 74-78; S. Esders, Formierung, S. 67-70. – bezahlen muss. Und für den Fall, dass ich bei dieser Zahlung zu diesem Termin nachlässig sein sollte, gelobe ich folgendes: Dass ich [nämlich] dasselbe in doppelter Höhe bezahle13 Die Strafzahlung in Höhe des doppelten Wertes (duplum) war bereits in der antiken Praxis weit verbreitet. Vgl. dazu J. Studtmann, Die Pönformel, S. 255-262 und 276-285; E. Levy, Weströmisches Vulgarrecht, S. 111-117; H. Siems, Handel und Wucher, S. 647.. Und da ich all dies oben erwähnte unversehrt bewahren werde, sollt weder Ihr noch Eure Untergebenen oder Eure Nachfolger es wagen, an denselben Besitzungen irgendeine Schädigung oder eine Feindseligkeit zu unternehmen, falls der Herr geruht, mir meine Lebensspanne zu verlängern14 Dieser Passus steht im Sinne dem mit dieser Prekarie bis zum Lebensende gewährten beneficium entgegen. Möglicherweise handelt es sich um eine Anspielung auf die (hier nicht erwähnte) Praxis, kirchliche Prekarien nur für eine Dauer von fünf Jahren auszugeben (Kapitular von Herstal 779, c. 13, MGH Capit. 1, S. 50; Synode von Meaux 845, c. 22, MGH Conc. 3, S. 96. Die Dauer dieser Frist geht möglicherweise auf römische Rechtspraxis zurück. Vgl. dazu H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 291f. und 304f.; E. Levy, Vom römischen Precarium, S. 25-27). In der folgenden zu dieser Prekarie gehörenden Prestarie (Flavigny Pa+Ko 11) wird eben diese Frist als Variante angegeben.. Nach meinem Hinscheiden aber sollt Ihr oder sollen Eure agentes oder soll Euer schon genanntes Kloster dieselben Besitzungen samt allem, was hinzugewonnen oder verbessert wurde, und allem oben dargelegten, mit aller Habe und allem Vermögen, allem Reichtum und allen Mitteln, ohne jedwede Aussicht auf eine Auflassung oder Abgabe für den Amtmann oder meine Erben, in Eure Herrschaft und Macht15 Die Fassung der Sammlung aus Ko2 ergänzt „und Macht“ (vel potestate). K. Zeumer, Formulae, S. 490 ergänzt in seiner Edition der Formeln aus P3 auf Grundlage von F. Lindenbrog, Codex legum, S. 1229, der dominationem vel potestatem abdruckt, zu dominatione [vel potestatem]. zurückrufen und zurücknehmen, so wie es das Schreiben an sie festhält, um für immer damit zu tun, was sie entscheiden mögen.