IN GOTTES NAMEN BEGINNT DIE VORREDE ZU DIESEM BUCH
An den heiligen Herrn, den durch seine Verdienste allerseligsten und allzeit mit apostolischer Ehre zu empfangenden und im Lobpreis mit jedwedem Lob zu preisenden Herrn und allerehrwürdigsten Bischof1 Der Titel papa ist in Spätantike und Frühmittelalter eine von sieben möglichen Bezeichnungen für den Bischof. Die Reihe presbyter, antistes, praesul, pontifex, sacerdos und papa findet man unter anderem bei Isidor, Etymologiae VII,12, 10-21 (ohne presbyter) und im sogenannten „Formelbuch Salomos III.“ von Notker dem Stammler († 912) (E. Dümmler, Das Formelbuch, XLV, S. 59f.). Erst mit zunehmender Stärke des Papsttums in Rom verengt sich der Titel papa auf den “Bischof von Rom”, bleibt im gallischen Raum aber bis in die Karolingerzeit in seiner allgemeinen Bedeutung im Gebrauch. Dazu J. Moorhead, Papa, S. 337f. Landerich/Aeglidulf2 Bereits A. Rio, Legal Practice, S. 60, hat darauf hingewiesen, dass die Praefatio ihrerseits als Formel verstanden und entsprechend genutzt wurde. Beide Handschriften überliefern an dieser Stelle einen unterschiedlichen Namen für den Empfänger: P12 hat Landerico, P3 Aeglidulfo. Die Form Aeglidulfo wird durch eine verlorene Handschrift aus Fulda gestützt, die laut eines Bibliothekskatalogs an einen Agiloffum episcopum adressiert gewesen sein soll. Dazu K. Christ, Die Bibliothek des Klosters Fulda, S. 114 Nr. 238 und S. 193. Die Adressaten sind nicht eindeutig zu erschließen. Landericus wurde bereits mit Bischof Landerich von Paris (†656) oder Meaux (nach 680) identifiziert. Gleiches gilt für Aeglidulfus, der von Uddholm mit Bischof Aldulf von Paris (nach 698) identifiziert wurde. Aber auch Adulf von Meaux (nach 680), Aigulf von Metz (590-599) oder sogar Agilolf von Köln († nach 748) kommen in Frage. Zu den möglichen Identifikationen A. Rio, Legal Practice, S. 82-85. Marculf3 Wer sich hinter dem Namen Marculfus verbirgt ist unbekannt. Wir wissen nicht, ob es sich dabei um eine historische Person oder ein gelehrtes Pseudonym handelt, das sich uns nicht mehr erschließt. Alle bisherigen Versuche Markulf zu identifizieren hängen an einer der möglichen Identifikationen von Landerich oder Aeglidulf. Die traditionelle Verortung von Markulf nach Saint-Denis ist letztlich rein spekulativ. Dazu A. Rio, Legal Practice, S. 88-92., der niedrigste und geringste aller Mönche. Hoffentlich konnten wir eurem Befehl, Heiliger Vater, genauso erfolgreich, wie willig gehorchen4 Marculf zitiert den Beginn des Prologs von Orosius, Historiarum adversum paganos: Praeceptis tuis parui, beatissime pater Augustine, atque utinam tam efficaciter quam libenter, quamquam ego in utramuis partem parum de explicito mouear recte ne an secus egerim. Der Adressat wird durch das Zitat auf der intertextuellen Ebene zum Kirchenvater Augustinus stilisiert. Die Junktur efficaciter quam spontaneae drückt aus, dass der Autor den Befehl seines Auftraggebers in dem Grade erfolgreich abschließen konnte, wie er willig war, die Arbeit zu verrichten. Der Orosiustext ist ediert bei C. Zangemeister, Orosius, Historiarum adversum paganos, S. 1., denn ich habe mich bald über die Möglichkeiten meiner Kräfte5 Wörtlich die “Kräfte meines Vermögens”. Der ungewöhnliche Bezug scheint auch dem Schreiber von P3 Unbehagen bereitet zu haben, denn in der konkurrierenden Überlieferung ist possibilitatis zu possibilitatem geändert. hinaus gemüht, die von Euch auferlegte Aufgabe zu übernehmen, obwohl ich an die siebzig oder mehr Lebensjahre vollenden will und die zitternde Hand schon nicht mehr geeignet ist, um zu schreiben, die erblindenden Augen nicht mehr genügen, um zu sehen, und geistige Stumpfheit nicht genügt, um den Sinn zu erfassen. Denn gemäß dem Ausspruch eines überaus klugen Mannes an Euch: „Bei Knaben wächst das Denkvermögen, bei Jünglingen blüht es, bei Greisen schwindet es“. Deshalb konnte ich es nicht so feinsinnig ausführen, wie ich wollte. Doch einmal beauftragt, führte ich es so aus, wie ich konnte. Nicht allein die Dinge, die ihr befohlen habt, sondern auch viele weitere. Ich habe mich bemüht, in dieses Heft6 Die scedola, das “Zettelchen”, wird an dieser Stelle pars pro toto als Bezeichnung für ein kurzes Dokument gebraucht. sowohl königliche Anordnungen als auch Urkunden, wie man sie auf dem Land7 Pagensis bzw. pagus bezieht sich hier weniger auf die konkrete Verwaltungseinheit „Gau“, sondern dient vielmehr der Unterscheidung vom Hof als Zentrum und der lokalen Verwaltung „auf dem Land“ (vgl. altfrz. païs). Gemeint ist Unterschied zwischen „offizieller“ Königsurkunde und Privaturkunde. hat, gemäß meiner Einfachheit und nach Art meiner bäuerischen Plumpheit8 Der Verweis auf die eigene rusticitas oder den sermo rusticus ist ein typischer Bescheidenheitstopos, der gerade im Frankenreich beliebt ist. Das scheinbare stilistische und sprachliche Unvermögen wird dabei allzuoft in einem glänzenden Stil geschildert. Gregor von Tours († 594) entschuldigt sich beispielsweise im Prolog der Zehn Bücher Geschichten wortreich, nur ein loquens rusticus zu sein, und brennt dafür ein rhetorisches Feuerwerk ab. Auch Marculf wirkt nicht gerade plump im Umgang mit der Lateinischen Sprache. Zum Sermo rusticus E. Auerbach, Literatursprache und Publikum, S. 66f. Zu Gregors Stil und Rhetorik W. Berschin, Biographie und Epochenstil Bd. 1, S. 297-299 und H. Beumann, Gregor von Tours, S. 69-98. einzutragen. Ich weiß natürlich, dass es viele geben wird – sowohl Ihr als auch andere überaus kluge und beredte Männer und Redner und des Ausformulierens Kundige – die dies hier, falls sie es (wirklich) lesen sollten, als gering und, verglichen mit ihrer Weisheit, gleichsam als albernes Zeug zurückweisen werden und es gewiss verschmähen werden, so etwas zu lesen. Aber ich habe dies (auch) nicht für solche Männer geschrieben, sondern so klar und einfach, wie ich konnte, um den Knaben die Grundlagen beizubringen; dadurch, dass man ein Beispiel hat, mag nämlich irgendeine Sache daraus für jeden einzelnen dienlich sein9 K. Zeumer, Formulae, S. 37, liest cui libet statt cuilibet und beginnt einen neuen Satz. A. Uddholm, Marculfi Formularium, S. 11 und A. Rio, The formularies, S. 126 folgen Zeumers Lesart Cui libet, fassen exemplando wie exemplare auf und übersetzen jeweils “kopieren”. In der Umkehrung der Grundbedeutung ist exemplare als “nachahmen”, “nach einem Beispiel ausführen” aber erst ab dem 9. Jahrhundert bei Walahfrid Strabo († 849) und Hrabanus Maurus († 856) belegt.. Falls aber etwas nicht gefällt, soll niemand zu etwas gezwungen werden, was er nicht will. Und meine bäuerische Plumpheit soll kein vorgreifendes Urteil über die Blütenzier der Worte von Gebildeten und Rednern und der Beredsamkeit der Rednergabe sein. Außerdem gibt es viele Geschäfte von Menschen, sei es bei Hofe oder auf dem Land10 Pagensis bzw. pagus bezieht sich hier weniger auf die konkrete Verwaltungseinheit „Gau“, sondern dient vielmehr der Unterscheidung vom Hof als Zentrum und der lokalen Verwaltung „auf dem Land“ (vgl. altfrz. païs). Gemeint ist Unterschied zwischen „offizieller“ Königsurkunde und Privaturkunde., die man nicht aufschreiben kann, bevor sie untereinander beraten wurden, und deren Wortlaut man dann gemäß Darlegung und Entgegnung aufschreibt und ausführt. Ich habe mich aber bemüht, das, was ich bei meinen Vorgängern gemäß der Gewohnheit des Ortes, an dem wir leben, gelernt und nach eigenem Ermessen durchdacht habe, so wie ich es konnte, zu einem Ort zusammenzufassen. Und ich habe die Kapitel vorangestellt, damit sie leichter von einem Suchenden, der das will, leichter gefunden werden können.